Buchvorstellung von Volker Friebel
Tihomir Popović (2025): stumme sprengungen. gedichte. edition offenes feld, Dortmund. Gebundenes Buch, 88 Seiten, 19 €.
Erhältlich im Buchhandel, etwa bei Amazon.
Der Autor ist Musik-Professor in Luzern und Hannover und bei Haiku heute ein gern gelesener Autor. Dieses Buch stellt allerdings keine Haiku, sondern ausschließlich längere Gedichte vor.
Die Thematik der Verse ist oft autobiografisch, die Ausdrucksweise bildhaft, musikalisch, oft surreal. Immer wieder meine ich fast wehmütige Bezüge auf die vergangene Kultur Europas zu hören. Der Ton der Verse wird dabei aber nicht dunkel, sondern erscheint sogar ausgesprochen licht. Orte, Landschaften kommen vor, die auch dann, wenn man sie selbst nicht kennt, Bilder anstoßen.
„Musikalisch“ schrieb ich und meine: Die Verse sind melodisch und deutlich rhythmisch gesetzt. Eigentlich gehört Musikalität zu den wichtigsten Kriterien für Lyrik – die aber in der Auflösung moderner Verse nicht mehr wichtig scheint. Und doch, finde ich, zeitlos wichtig bleibt, nimmt sie doch den Atem, die Stimme, die ganze Physiologie des Dichters mit und verbindet ihn mit dem Leser.
Die Form der Verse von Popović entspricht ganz moderner Lyrik: durchgehende Kleinschreibung, keine Reime, keine Zeichensetzung, kurze Zeilen, große Zeilenabstände. Meist denke ich dabei an den vielen verschwendeten Platz. In diesem Gedichtbuch ist das etwas anders: Der leere Raum schwingt mit, trägt zum Lichten, Freien, Singenden der Verse bei. Für die musikalische Sprache finde ich verhältnismäßig wenige Assonanzen. Alliterationen sind häufiger. Interessanterweise machen sie die Texte aber nicht schwerer, sondern halten die manchmal weiten Assoziationen zusammen.
Bildhafte, musikalische Sprache, überraschende Wendungen, häufig ein surrealer Charakter. Ich spüre deutlich die Person des Dichters – aber das Buch ist nicht einfach nur persönlich, privat, die ganze Welt, die er sieht, zeigt sich in ihm, zeigt sich dem Leser.
Immer wieder finde ich sehr gelungene Wendungen. In „freilicht“ etwa: „der sommerwind / unterschreibt / unsere entlassung“
Oder in „die flucht“: Diese endet mit: „dem meer entkommt niemand“.
In „kinderecke“: „und der ball rollt / über altes parkett / mit banknotenduft“
In „torfhausmoor“: „deine augen beten / im moor“.
In „firenze“ heißt es „ein lautloser / hotelregen / die vespas brausen / im flur herum“ sowie „wir frühstücken / weinrote nächte“.
In „venésia“ über Männer in einem Café: „ihre gesichter / mit pfeffer bestreut“.
Auch Humor kommt vor – und ganz viel Fantasie, etwa im Gedicht „die eilenriede“, in der der Autor schreibt, was er alles vom Wald mitbringt, unter anderem nämlich: „eine nacktschnecke mit zylinderhut / und zwei müde lackschuhe / die zur abendstunde / posaune spielen“.
Bei einigen Widmungsgedichten bleibe ich draußen, kenne die Personen nicht, die (vermutlich) gemeinsame Erinnerung stellt sich bei mir als Drittem nicht ein. Anders ist es mit dem „du“ und „wir“ des Buchs, sie sind offen gehalten, da fühle ich als Leser mich eingeladen und bin dabei.
Zahlreiche Stellen im Buch von Popović zeigen, wie stark die Ästhetik des Haiku Eingang in die moderne Lyrik gefunden hat. Was mir überhaupt als der wichtigste Beitrag des Haiku zur westlichen Dichtung gilt, gar nicht mal seine Etablierung als eigene Gedichtform, sondern eben die Wiederbelebung europäischer Dichtung durch Bildhaftigkeit und Gegenwärtigkeit, durch den beschriebenen Augenblick.
Das Lesen der Gedichte hat mir gut getan, die Musik der Verse, ihre Bilder, auch die Freude am Leben, die immer wieder aus ihnen tönt. Und sie haben mich nachdenklich gemacht, über die Welt, über das Leben, über die Art und Weise wie jeder sein Leben in der verwirrenden Welt organisiert, über Dichtung und überhaupt die Bedeutung von Kunst in unserem Leben. Was will man mehr?
Was ein Gedicht kann, lesen wir im „taucherlied“, das hinter den fünf Kapiteln das Buch beendet:
ich tauche
und atme
den mondgeruch
er umhüllt mich
und ich weiß
er heilt
Eine klare Leseempfehlung für dieses Buch.