Top-Extra März 2008

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

am Küchentisch
die Nacht hält still
für meine Gedanken

Stefanie Bucifal

 

Lebenslinie …
in ihren Händen
die seine

Hans-Jürgen Göhrung

 

Nach der Lesung
auch der Regen
mein Applaus

Christa Beau

 

regentag
sich frei-lesen
bis ins blau

Helga Stania

 

Tapetenabteilung
das junge Paar wählt
Himmelblau

Eleonore Nickolay

 

den Mond betrachten
auch die alte Kiefer
seufzt

Ramona Linke

 

dunkle Straße
hinter jedem Fenster
eine andere Nacht

Anke Holtz

 

Frostmorgen
auf dem Nachbardach raucht
ein Schornsteinschatten

Anke Holtz

 

Neubausiedlung
die Wiese deiner Kindheit
asphaltiert

Stefanie Bucifal

 

Dachdecker
fröhlich pfeifend
nah am Himmel

Gerald Böhnel

 

Im Februar 2018 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 296 Haiku von 51 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge. Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

am Küchentisch
die Nacht hält still
für meine Gedanken

Stefanie Bucifal

Es ist vor allem ein Wort, das für mich die Besonderheit und den Reiz dieses Haiku ausmacht: „die Nacht HÄLT still für meine Gedanken“.

Dass die Nacht still „IST“, kann man unmittelbar verstehen, nachempfinden. Dass aber die Nacht wie jemand, der alles geduldig erträgt, still „HÄLT“ – das sagt etwas Anderes und in diesem Zusammenhang Neues aus.

Zum Verständnis kann uns die erste Zeile des Haiku helfen. Das „setting“ des Haiku ist der Küchentisch bei Nacht. Tagsüber ist die Küche ein Ort der Geschäftigkeit und des Dienstes am Magen. Nachts schweigt sie.

Nacht (in) der Küche, am Küchentisch ist der Gegensatz von Geschäftigkeit, Geschwätzigkeit und Äußerlichkeit. Im Trubel des Tagesgeschäfts, des Über-lebens haben Nachdenklichkeit und Stille keinen Raum und keinen Zuhörer.

Erst die Nacht ist der Raum für „meine anderen Gedanken“. Und „personifiziert“ wird sie sogar das Gegenüber, dem ich meine Gedanken anvertraue.

„Nachtgedanken“ ist der Titel eines berühmten Gedichtes von Heinrich Heine, das letzte der 1844 erschienenen Zeitgedichte. Bekannt vor allem sein Anfang: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, / dann bin ich um den Schlaf gebracht.“

Ähnlich können die Gedanken eines, der nachts am Küchentisch nachdenkt, die eines sich seltsam fremd oder unverstanden fühlenden Menschen sein. Und sie können niemand anderem gesagt werden als der dunklen, in reglosem Schweigen scheinbar geduldig und unbegrenzt aufnehmenden Nacht …