und Haiku-Besprechung
von René Possél
immer immer immer tot
er sucht
nach einem Kindergebet
Martin Berner
… als wäre es das letzte Mal
blühender Flieder
Gerda Förster
Aphrodite –
die warme Haut
des Marmors
Gerd Börner
Bügeltag –
das Hin und Her
der Gedanken
Eleonore Nickolay
frühlingswind
halb frage noch
seine zärtlichkeit
Brigitte Pemberger
flussabwärts
werfe den Blinker
in die Wolken
Christof Blumentrath
Glockenläuten
eine Schafherde frisiert
die Sommerwiese
Matteo Lieber
neue Nachbarn
ein Hebekran stellt
den Buddha auf
Anke Holtz
Sein Zug fährt ab
und plötzlich schmeckt der Regen
salzig
Claudia v. Spies
verwittert
der Hochsitz
unsrer ersten Küsse
Eleonore Nickolay
Im April 2018 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 275 Haiku von 52 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge. Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
immer immer immer tot
er sucht
nach einem Kindergebet
Martin Berner
Ein ungewöhnliches und un-eindeutiges Haiku zu einem ernsten Thema!
Die erste Zeile klingt wie der verzweifelte Ausruf eines Kindes über den Tod von … Ob es sich dabei um einen nahen Menschen (Oma/Opa) oder vielleicht um ein geliebtes Haustier handelt, bleibt offen.
Es scheint, dass die plötzliche Erkenntnis des „endgültigen Todes“ das Kind überfällt wie auch überfordert. Die einfach dreifache Nennung des „immer“ als Steigerung und Dramatisierung gibt einerseits (gut bemerkt) kindliche Sprache wieder und ist andererseits ein starkes formales Ausdrucksmittel.
Nach dem Paukenschlag der ersten Zeile folgt in der zweiten mit den allein stehenden Worten „er sucht“ der Schwenk zum Vater (?!), der als Trost und Hilfe für das verzweifelte Kind nach einem kindgemäßen Gebet sucht.
Man könnte das Haiku auch anders lesen und verstehen! Es könnte auch die Verzweiflung eines Erwachsenen in der Konfrontation mit dem Tod sein, die ihn in seiner Hilflosigkeit und Regression vielleicht nach einem Gebet aus Kindertagen suchen lässt …
Die Verschränkung von Einfachheit und Komplexität, Eindeutigkeit und Offenheit, Ernst und Hilflosigkeit, von Kinder- und Erwachsenen-Haltung angesichts der Endgültigkeit des Todes macht das Haiku für mich zu einem berührenden Denk-Anstoß.