Top-Extra September 2018

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

Vor dem Gericht
das Rascheln
der Blätter

Taiki Haijin

 

reife Weintrauben
als wäre nichts
umsonst gewesen

Eva Limbach

 

sperrmüll
im alten spiegel
mein gesicht

Jörg Schaffelhofer

 

sommerdürre
in meinem garten
wächst ein strand

Monika Audorff

 

quelle am berghang
unsere buckel
beim trinken

Bernadette Duncan

 

Rache des Sohnes
das Navi heute
auf japanisch

Anke Holtz

 

Erstes Date im Straßencafé
das Eis zwischen ihnen
schmilzt

Claudia v. Spies

 

auf dem Weg zu dir
das Navi empfiehlt
eine Umleitung

Anke Holtz

 

arztgespräch
hinter dem lächeln
die wahrheit suchen

Jörg Schaffelhofer

 

Eis am Stiel
er leckt die Kühle
von ihren Lippen

Christa Beau

 

Im August 2018 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 232 Haiku von 50 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

Vor dem Gericht
das Rascheln
der Blätter

Taiki Haijin

 

Eine kurze Angabe des Ortes bzw. der Situation in der 1. Zeile wird erweitert und präzisiert durch den bestimmten Artikel „vor“ Gericht. Die Präposition „vor“ kann örtliche oder zeitliche Bedeutung haben: 1. das Stehen vor dem Gericht, im örtlichen wie im übertragenen Sinne, aber auch 2. der Zeitraum, bevor eine Verhandlung beginnt.

Bereits mit diesen ersten drei Worten öffnet sich ein bestimmter Assoziations-Raum im Leser bzw. Hörer.
Was folgt, ist die Wiedergabe einer akustischen Wahrnehmung: „das Rascheln der Blätter“.

Vor und für Gericht werden viele Schriftsätze produziert, zusammen-getragen: Klageschrift, Verteidigung, Stellungnahmen, Vorladungen usw. Die Schriftlichkeit als Formerfordernis der Rechtsprechung ist so selbstverständlich, dass niemand mehr auf die papierene Flut achtet. Erst durch die Erwähnung des Geräusches, das die Blätter machen, gewinnt das Haiku seine Besonderheit und weitergehende Aussage:

Da sind menschliche (Streit-) Situationen in Worte gefasst und damit Schrift geworden. Schwarz-weiß wird auf steifen Bogen festgehalten, was im Menschen-Alltag bunt, flüchtig und lebendig daherkommt …
Diese Blätter des Schrift gewordenen Lebens rascheln ganz gehörig.

Die scheinbar einfache Beobachtung eines zu unserem Leben gehörenden Vorgangs kann nachdenklich machen darüber, wie sehr wir uns in vielen Bereichen an die Schriftlichkeit und damit die Kompliziertheit und Vergangenheits-Fixierung des Lebens gewöhnt haben.