und Haiku-Besprechung
von René Possél
Blind Date
ihr Blick
sagt alles
Eleonore Nickolay
einsamer Strand
das Meer redet
mir gut zu
Anke Holtz
erste Begegnung
der Blinde ertastet
ihr Gesicht
Pitt Büerken
Gipfelglück
in der Vesperbox
ein Schokoladenherz
Anke Holtz
im Hofladen
eine Polin verschenkt
ihr Lächeln
Christa Beau
kalte hauswand
frisch gestrichen
mit abendrot
Tobias Tiefensee
MoiensumsiwweschloofedieWoimoggelschernoch
MorgensumsiebenschlafendieFruchtfliegennoch
Christiane Freimann
Nachsaison ‒
der fliegende Händler
verschenkt seine Rosen
Eva Limbach
zwischen Neubauten
im Hafenviertel ‒ die Würde
der alten Kräne
Gérard Krebs
Advent
Omas Küsschen
aus Zimt
Eleonore Nickolay
Im Oktober 2018 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 243 Haiku von 52 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
Blind Date
ihr Blick
sagt alles
Eleonore Nickolay
Sechs Worte, die alles sagen für Menschen, die auf der Höhe der Zeit sind. Sie werden wissen, was ein „blind date“ ist. Sie kennen vielleicht nicht nur die Übersetzung, sondern auch (aus eigener Erfahrung?!) die dazu gehörige Atmosphäre von Ungewissheit, Spannung und prickelnder Neugier. Bei dieser moder-nen Form der Partner-Vermittlung wollen „die Beteiligten ihre ‚blinde Offenheit“ bis zum Moment der ersten Begegnung bewahren…“ (Wikipedia).
In einer solchen Situation trifft?/ beobachtet? der Schreiber eine Frau beim „blind date“. Dass ihr Blick alles sagt, ist so deutlich wie un-eindeutig. Sagt ihr Blick, dass sie jemanden gefunden hat oder dass sie frustriert ist? Der Schreiber weiß es, der Leser nicht.
In der Un-Eindeutigkeit des „alles“ liegt der Reiz des Haiku. Jeder kann sich seinen Teil denken. Alles ist möglich – wie beim „blind date“. Mir gefällt in der Komposition des Haiku die alliterative Entgegen-setzung des (metaphorischen) „blind“ mit dem (tatsächlichen) „Blick“ und die völlige Offenheit der Situation/Interpretation für den Leser.
Sechs Worte. Sie genügen, Assoziationen, Geschichten auszulösen. Sie erinnern mich an
“the (Urban) Legend of Ernest Hemingway’s Six-Word Story: “For sale: Baby shoes, never worn.”