Top-Extra Dezember 2018

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

Rotweinabend –
die alten Zeiten werden
immer älter

Franz Kratochwil

 

Ehekrach
ihr Kind streichelt
den Hund

Christa Beau

 

tiefer Winter
im Gebirge verlor der Bach
seine Stimme

Adrian Bouter

 

Im Park
die hohle Weide
kichert uns nach

Iwa Antonow

 

frisch gestrichen
die Stelle
wo damals das Kreuz hing

Eva Limbach

 

Nikolaustag
die Bärte der Weiden
am Fluss

Gabriele Hartmann

 

Mitternacht
durch leere Straßen geistert
ein Blaulicht

Friedrich Winzer

 

Kranichrufe
ich überfliege
Reiseangebote

Eleonore Nickolay

 

Herbstgold
auch das Zimmer voll
von Birkenlicht

Gérard Krebs

 

Advent
die Lichterketten
der Autos

Eleonore Nickolay

 

Im November 2018 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 323 Haiku von 63 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

Rotweinabend –
die alten Zeiten werden
immer älter

Franz Kratochwil

 

Manchmal wünschte ich, man könnte ein Haiku statt lesen hören. Im Hören und unmittelbaren Assoziieren geht man von dem aus, was die einzelne Zeile sagt – und weiß nicht gleich das Ende!

Bei diesem Haiku ruft die erste Zeile zunächst ein bestimmtes Bild hervor, nämlich „ein gemütlicher Abend in Gesellschaft“ – und beim (vermutlich reichlichen) Trinken guten Rotweins …

Die zweite Zeile setzt das Bild nachvollziehbar fort: Thema dieses feucht-fröhlichen Abends mit etwa gleichaltrigen Freunden sind unvermeidlich „die (guten) alten Zeiten“.

So weit – so gut! Nichts Neues oder Aufregendes. Könnte man das Haiku nur bis zum Ende der zweiten Zeile hören – und sollte die dritte Zeile ergänzen, käme vielleicht heraus: „die alten Zeiten werden – hervorgekramt oder im Erzählen wieder lebendig, ins Gedächtnis gerufen, beschworen“ usw.

Erst mit der ungewöhnlichen Aussage in der dritten Zeile schafft das Haiku eine Überraschung, eine originelle Volte: „Die alten Zeiten werden – immer älter“! Es ist die (Rotwein-induzierte) Erkenntnis, dass die alten Zeiten mit jedem Jahr länger zurückliegen – gewissermaßen „immer älter“ werden. Eine aparte Verschiebung! Denn es werden natürlich nur jene, die diese länger zurückliegenden Zeiten noch erinnern, immer älter …

Ich trinke ein Glas Rotwein auf das schöne Haiku und die alten Zeiten!