und Haiku-Besprechung
von René Possél
Rotweinabend –
die alten Zeiten werden
immer älter
Franz Kratochwil
Ehekrach
ihr Kind streichelt
den Hund
Christa Beau
tiefer Winter
im Gebirge verlor der Bach
seine Stimme
Adrian Bouter
Im Park
die hohle Weide
kichert uns nach
Iwa Antonow
frisch gestrichen
die Stelle
wo damals das Kreuz hing
Eva Limbach
Nikolaustag
die Bärte der Weiden
am Fluss
Gabriele Hartmann
Mitternacht
durch leere Straßen geistert
ein Blaulicht
Friedrich Winzer
Kranichrufe
ich überfliege
Reiseangebote
Eleonore Nickolay
Herbstgold
auch das Zimmer voll
von Birkenlicht
Gérard Krebs
Advent
die Lichterketten
der Autos
Eleonore Nickolay
Im November 2018 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 323 Haiku von 63 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
Rotweinabend –
die alten Zeiten werden
immer älter
Franz Kratochwil
Manchmal wünschte ich, man könnte ein Haiku statt lesen hören. Im Hören und unmittelbaren Assoziieren geht man von dem aus, was die einzelne Zeile sagt – und weiß nicht gleich das Ende!
Bei diesem Haiku ruft die erste Zeile zunächst ein bestimmtes Bild hervor, nämlich „ein gemütlicher Abend in Gesellschaft“ – und beim (vermutlich reichlichen) Trinken guten Rotweins …
Die zweite Zeile setzt das Bild nachvollziehbar fort: Thema dieses feucht-fröhlichen Abends mit etwa gleichaltrigen Freunden sind unvermeidlich „die (guten) alten Zeiten“.
So weit – so gut! Nichts Neues oder Aufregendes. Könnte man das Haiku nur bis zum Ende der zweiten Zeile hören – und sollte die dritte Zeile ergänzen, käme vielleicht heraus: „die alten Zeiten werden – hervorgekramt oder im Erzählen wieder lebendig, ins Gedächtnis gerufen, beschworen“ usw.
Erst mit der ungewöhnlichen Aussage in der dritten Zeile schafft das Haiku eine Überraschung, eine originelle Volte: „Die alten Zeiten werden – immer älter“! Es ist die (Rotwein-induzierte) Erkenntnis, dass die alten Zeiten mit jedem Jahr länger zurückliegen – gewissermaßen „immer älter“ werden. Eine aparte Verschiebung! Denn es werden natürlich nur jene, die diese länger zurückliegenden Zeiten noch erinnern, immer älter …
Ich trinke ein Glas Rotwein auf das schöne Haiku und die alten Zeiten!