Top-Extra Januar 2019

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

einmal springen können
schreibt sie
auf ihren Wunschzettel

Martin Berner

 

ich koche uns
dein Lieblingsessen
Jahresgedächtnis

Ralf Bröker

 

Elternhaus
an allen Fenstern
Eisblumen

Anke Holtz

 

Ehekrach
ihr Kind streichelt
den Hund

Christa Beau

 

Silvestermorgen –
noch einmal blättern im
alten Kalender

Franz Kratochwil

 

Nach Weihnachten
Oma bügelt wieder
das Geschenkpapier

Claudia v. Spies

 

Letzter Urlaubstag –
der große Reisekoffer
geht nicht mehr zu

Gerd Romahn

 

Fahrt zum Brocken
das wilde Haar
der Frau vor mir

Gérard Krebs

 

nach dem Gewitter
vom Fenster perlt
die Stille ab

Eleonore Nickolay

 

im abendzug
ein angelesenes buch
auf meinem platz

Jörg Schaffelhofer

 

Im Dezember 2018 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 282 Haiku von 55 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

einmal springen können
schreibt sie
auf ihren Wunschzettel

Martin Berner

 

Ein Weihnachts-Haiku?! Der Wunschzettel deutet darauf hin. Er verrät noch mehr: 1. Es ist ein kleines Mädchen, das sich etwas wünscht und dass 2. noch Wunschzettel zu Weihnachten schreibt.

Was sie wünscht, steht gleich in der ersten Zeile des Haiku – das die strenge klassische Form nicht einhält. Aber die Struktur ist auch ohne dem überzeugend. Der Wunsch eines Kindes steht gleich in der ersten Zeile und damit im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

„einmal springen können“ – das ist kein gewöhnlicher Wunsch. Wer, wenn nicht die Kinder, könnten und würden springen, wenn sie Lust und Gelegenheit dazu haben und – müsste man jetzt sagen – überhaupt die Möglichkeit. Ein kleines Mädchen, das sich wünscht, nur einmal springen zu können, kann eben überhaupt nicht springen – das ist das Besondere.

Nun darf die Phantasie (im Rahmen der knappen Worte) tätig werden. Ein Mädchen, das krank bzw. bewegungseingeschränkt ist (wodurch auch immer?!), kann zu Weihnachten gut nachvollziehbar nur diesen einen großen Wunsch haben – eben „einmal springen können“.

Die für Gesunde unspektakuläre Bewegung wird für die Kranke oder Behinderte zu einer besonderen Bewegung, die vor allem Gesundheit voraussetzt. Das ist wohl der tiefere Grund und Wunsch hinter dem konkreten, kindlichen, einfachen …

Ein einfaches Haiku?! Ja und Nein! Einfach in der Struktur, einfach zu begreifen: Ja! Einfach zu verstehen, mitzuempfinden, mitzuleiden, zu akzeptieren: Ja, was das Mitleid angeht – Nein, was das Leid angeht! Ich möchte den Wunschtraum des kleinen Mädchens glatt auf meinen Wunschzettel für sie schreiben – und das nicht nur zur Weihnachtszeit!