Top-Extra März 2019

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

Radio
ich bin zwanzig
so lange der Song dauert

Eleonore Nickolay

 

auf dem spielplatz
der sandkuchen schmeckt
nach sand

Tobias Tiefensee

 

Die Umarmung meines Sohnes
wie klein
ich geworden bin

Claudia v. Spies

 

Kürbissuppe
der Keller nun
dunkler

Ruth Karoline Mieger

 

Vollmond –
die Nacht schreit
mit offenem Mund

Gérard Krebs

 

sieben Jahre
auf der Morgenfähre
ihr Lächeln

Claus Hansson

 

Vom Himmel
geborgt – die Tiefe
der Wasserlache.

Reinhard Dellbrügge

 

Eiswind
meine Hand kriecht
in seine

Martina Müller

 

auf dem Weg zur Arbeit
in einer Pfütze
bricht der Tag an

Eleonore Nickolay

 

Valentinstag wir schenken uns nichts

Ralf Bröker

 

Im Februar 2019 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 300 Haiku von 66 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

Radio
ich bin zwanzig
so lange der Song dauert

Eleonore Nickolay

Um es gleich zu sagen: Ich hätte die zweite und dritte Zeile umgestellt. Erst die Erwähnung des Songs, den ich höre – dann der Hinweis auf das Alter.

Aber es mag auch so herum gehen. Und die Aussage ist in jedem Falle gleich: Da spielt das Radio einen (alten) Song, der mich in die Zeit als Twen versetzt.

Das kann man nachvollziehen. Die direkte Formulierung macht viel aus.  Da wird nicht etwa gesagt „Ich fühle mich wieder wie zwanzig“, sondern „Ich bin zwanzig!“ Denn es geht um Bilder und Gerüche, Gedanken und Erinnerungen, Freunde / Freundinnen und Zeitgeschichte von damals.

Eins ist auch klar: Der Schreiber / die Schreiberin ist einiges älter als zwanzig. Man muss schon älter sein, um den Unterschied zu kennen – und um es zu genießen, wenn man für die Dauer eines Songs wieder zwanzig ist …

Ältere Semester werden sich vielleicht an das Lied des Volks- und Schlager-Sängers Willy Schneider von 1953 erinnert fühlen, das aber einen nostalgisch-amourösen  Zungenschlag hatte:  „Man müsste nochmal zwanzig sein“.