Top-Extra April 2019

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

Fastenbrechen
unerträglich die Süße
unseres Kusses

Anke Holtz

 

weißer Morgen
die kahle Stelle
wo sein Auto stand

Anke Holtz

 

Gezeter …
routiniert greift er
ans Hörgerät

Friedrich Winzer

 

Landregen –
mit einem Amsellied
heimkommen

Claus Hansson

 

Nach dem Streit mit Vater
Mutter geht in die Küche
Zwiebeln schneiden

Claudia v. Spies

 

Valtentinstag
sie staubt
den Trockenstrauß ab

Martin Berner

 

Haute Couture
jemand probiert
eine Gelbweste

Eleonore Nickolay

 

im wasserspiegel
mein gesicht
voller falten

Tobias Tiefensee

 

am kinderspielplatz
ein bagger öffnet
kindermünder

Tobias Tiefensee

 

dort drüben
an der weide werden
kätzchen geboren

Tobias Tiefensee

 

Im März 2019 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 317 Haiku von 69 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

Fastenbrechen
unerträglich die Süße
unseres Kusses

Anke Holtz

 

Ein ironisches, augenzwinkerndes Haiku! Die erste Zeile gibt das Thema an: „Fastenbrechen“. Da wir uns in der (kirchlichen) Fastenzeit vor Ostern befinden, hat das Thema „Fasten“ eine gewisse Aktualität. „Fastenbrechen“ bedeutet hier: das nicht beabsichtigte Brechen des beabsichtigten Fastens durch einen besonderen Umstand.

„Fasten“ im landläufigen Verständnis heißt ja, eine gewisse Zeit auf Alkohol und Süßigkeiten zu verzichten. So ist der Genuss von Süßem „unerträglich“ für den, der dem Süßen abgeschworen hat. Die Formulierung erreicht, dass man nach „die Süße“ gespannt ist, welche Süßigkeit denn die Fastenzeit unversehens gebrochen hat …

Die dritte Zeile löst die Spannung und die Frage auf mit einer heiter-ironischen Volte: Ein Kuss, mehr noch: „unser Kuss“ ist der Grund für das Fastenbrechen. Die (metaphorische) Süße eines einvernehmlichen Kusses durchbricht das Fasten. Natürlich ist „Die Süße“ eines Kusses eine andere als die eines Lebensmittels; natürlich ist diese Süße nichts, was das reguläre Fasten „bricht“. Und natürlich ist „die Süße unseres Kusses“ alles andere als „unerträglich“ – außer für Fastende der strengsten Observanz …

Darf man darin auch das kaum verdeckte Genießen sehen an einer noch attraktiven Beziehung …?! Jedenfalls macht das gekonnte Spiel mit Sprache und Bedeutungs-Ebenen den Reiz des Haiku aus, das fürwahr „ein lustiger Vers“ ist.