Top-Extra Juni 2019

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

die antwort
der löwenzahnwiese
bevor ich fragte

Bernadette Duncan

 

Kühler Morgen.
Eine Spinne
sammelt Perlen.

Reinhard Dellbrügge

 

wieder am Bahnhof
der Koffer wiegt
jedes Mal schwerer

Birgit Lockheimer

 

Paradiesgärtlein:
Die Schöpfkelle am Brunnen
angekettet.

Christiane Freimann

 

Frühlingsmorgen
im Badezimmerspiegel
blickt mich der Herbst an

Claudia v. Spies

 

nach der Untersuchung
den Blick des Arztes
festhalten

Anke Holtz

 

Bushaltestelle
neben mir wartet
eine Spinne

Marita Bagdahn

 

dreimal schon
den Führerschein
zum Abgeben zurechtgelegt

Martin Berner

 

er will gehen
zum ersten Mal sucht sie
sein Tagebuch

Martin Berner

 

verschaukelt
zwei Zitronenfalter
im Raps

Friedrich Winzer

 

Im Mai 2019 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 292 Haiku von 63 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

die antwort
der löwenzahnwiese
bevor ich fragte

Bernadette Duncan

 

Ich gestehe, dass ich das Haiku nicht vollends gelungen finde. So sollte es in der dritten Zeile besser heißen: „bevor ich frage“. („Haiku erzählen von der Gegenwart … Deshalb wird das Präsens gebraucht.“ Siehe: haiku-heute, Haiku in der Schule – Stichwort Gegenwärtigkeit)

Dennoch „hat“ das Haiku etwas Apartes, womöglich Philosophisches an sich, das einen Denkanstoß geben kann …

Für den Haiku-Dichter stellt der Anblick der Löwenzahnwiese eine Antwort dar. Die Frage, auf die sie Antwort ist, hat er noch gar nicht im Bewusstsein oder gar auf der Zunge. Herauszufinden, inwiefern die Löwenzahnwiese Antwort ist und wie die Frage dazu lautet, macht den Reiz dieses Haiku aus. Alles ist offen und möglich – und schafft damit maximalen Raum für Denken und Fantasie auf dem Hintergrund des jeweiligen Lesers oder Hörers.

Hier ein, mein Lese- und Verstehens-Versuch: In der mittelalterlichen, scholastischen Philosophie war ein Kernsatz der Transzendentalien-Lehre:

„Verum, bonum, pulchrum et unum convertuntur“ = „Das Wahre, Gute, Schöne und Eine sind austauschbar“

Das bedeutet: Wenn etwas schön ist, weist es damit auch auf die Wahrheit, die Güte und die Einheit des Seins hin.

Auf unser Haiku angewendet, kann das heißen: Wenn uns etwas Schönes übersteigt (=transzendiert), erfahren wir darin etwas von der Wahrheit, der Güte und Einheit des ganzen Seins. Konkret gesagt: Wer von der Schönheit einer Löwenzahnwiese überwältigt wird, erhält eine Antwort auf die dann vielleicht erst hochkommende Frage:

Wie kann die Welt verlogen, böse und zerrissen sein, wie es manchmal den Anschein hat, wenn es so etwas Schönes gibt?! Ich gestehe: Diese Denk-Anstößigkeit des Haiku finde ich gelungen.