Top-Extra August 2019

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

leere Kirche
der Organist spielt
In the Mood

Friedrich Winzer

 

Abenddämmerung
zwei Rentner joggen um
den Friedhof

Ruth Karoline Mieger

 

aus der Stille
ein Auto
in die Stille

Beate Conrad

 

Ferienende
der Bub präsentiert seine
Eisstielsammlung

Taiki Haijin

 

im Zug
aus dem Morgen
in den Tag fahren

Christa Beau

 

Radelpause
in den Ohren
Windstille

Ingrid Meinerts

 

Sandburg
Eimer um Eimer trägt das Kind
das Meer in sein Reich

Hans-Jürgen Göhrung

 

Sommerwein
die Leichtigkeit
unserer Zweifel

Eva Limbach

 

Zeitungslektüre
zwischen den Zeilen
ein brauner Käfer

Ingrid Löbling

 

Spaziergang
Herrchen und Hund
lesen die Morgenzeitung

Claudia v. Spies

 

Im Juli 2019 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 315 Haiku von 69 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

leere Kirche
der Organist spielt
In the Mood

Friedrich Winzer

Ein Haiku, in dem es um Musik geht. Es setzt voraus, dass man das darin genannte Jazz-Stück von Glenn Miller dem Namen nach, besser noch der Melodie nach kennt. Dann erschließt sich das Haiku.

„Setting“ ist eine Musik-Situation, die traditioneller und konservativer nicht sein könnte: Das Orgelspiel eines Organisten. Die Beschreibung: „leere Kirche“ lässt vermuten, dass es sich um das tägliche Üben des Organisten in der Zeit außerhalb des Gottesdienstes handelt.

Der Organist wird normalerweise die Stücke üben, die er für den Gottesdienst braucht, also Kirchenlieder oder klassische Orgel-Literatur. Diese Vermutung bleibt bis zum Ende der zweiten Zeile wahrscheinlich. Erst mit der dritten bekommt das Haiku sein „lustige“ Wendung.

Der Organist spielt etwas, was er für sich gut findet bzw. was seinem privaten Geschmack, „seiner aktuellen Stimmung“ entspricht. Das aber ist kein klassisches Orgel-Stück, sondern ein bekanntes Jazz-Stück. Und es heißt noch dazu so, wie ihm im Moment zumute sein mag, nämlich: „in the mood“ = „in der Stimmung“.

In der dritten Zeile wird jene Erwartung lustvoll enttäuscht, die durch die beiden ersten Zeilen bewusst aufgebaut wurde. Damit ist das Haiku perfekt – und man mag am liebsten hören, wie der Organist „in dieser Stimmung“ ist bzw. diese spielt.