und Haiku-Besprechung
von René Possél
leere Kirche
der Organist spielt
In the Mood
Friedrich Winzer
Abenddämmerung
zwei Rentner joggen um
den Friedhof
Ruth Karoline Mieger
aus der Stille
ein Auto
in die Stille
Beate Conrad
Ferienende
der Bub präsentiert seine
Eisstielsammlung
Taiki Haijin
im Zug
aus dem Morgen
in den Tag fahren
Christa Beau
Radelpause
in den Ohren
Windstille
Ingrid Meinerts
Sandburg
Eimer um Eimer trägt das Kind
das Meer in sein Reich
Hans-Jürgen Göhrung
Sommerwein
die Leichtigkeit
unserer Zweifel
Eva Limbach
Zeitungslektüre
zwischen den Zeilen
ein brauner Käfer
Ingrid Löbling
Spaziergang
Herrchen und Hund
lesen die Morgenzeitung
Claudia v. Spies
Im Juli 2019 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 315 Haiku von 69 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
leere Kirche
der Organist spielt
In the Mood
Friedrich Winzer
Ein Haiku, in dem es um Musik geht. Es setzt voraus, dass man das darin genannte Jazz-Stück von Glenn Miller dem Namen nach, besser noch der Melodie nach kennt. Dann erschließt sich das Haiku.
„Setting“ ist eine Musik-Situation, die traditioneller und konservativer nicht sein könnte: Das Orgelspiel eines Organisten. Die Beschreibung: „leere Kirche“ lässt vermuten, dass es sich um das tägliche Üben des Organisten in der Zeit außerhalb des Gottesdienstes handelt.
Der Organist wird normalerweise die Stücke üben, die er für den Gottesdienst braucht, also Kirchenlieder oder klassische Orgel-Literatur. Diese Vermutung bleibt bis zum Ende der zweiten Zeile wahrscheinlich. Erst mit der dritten bekommt das Haiku sein „lustige“ Wendung.
Der Organist spielt etwas, was er für sich gut findet bzw. was seinem privaten Geschmack, „seiner aktuellen Stimmung“ entspricht. Das aber ist kein klassisches Orgel-Stück, sondern ein bekanntes Jazz-Stück. Und es heißt noch dazu so, wie ihm im Moment zumute sein mag, nämlich: „in the mood“ = „in der Stimmung“.
In der dritten Zeile wird jene Erwartung lustvoll enttäuscht, die durch die beiden ersten Zeilen bewusst aufgebaut wurde. Damit ist das Haiku perfekt – und man mag am liebsten hören, wie der Organist „in dieser Stimmung“ ist bzw. diese spielt.