und Haiku-Besprechung
von René Possél
alter Farbkasten
das Blau
mit dem ich früher
den Himmel malte
Bernadette Duncan
40 Gramm
das Gewicht
meines Beileids
Simone K. Busch
Abendrot
im Puderdosenspiegel
ihr kleines Lächeln
Christof Blumentrath
Beerdigung
das Rascheln
der Schatten
Kaiser Kahn
Ferienende
die Wellen jauchzen
nicht mehr
Eleonore Nickolay
Hitzewelle am Waldrand in die Kühle schlüpfen
Ramona Linke
wieder zuhause
seine Hand erschrickt
auf ihrer Narbe
Christof Blumentrath
von Beere zu Beere
meine Heimkehr
zum Kind
Simone K. Busch
Dorffest
in die Nacht geheult
der falsche Elvis
Christof Blumentrath
Fiakerfahrt …
beim Würstelstand warten
die Spatzen
(In Memoriam Franz Kratochwil)
Ramona Linke
Im August 2019 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 327 Haiku von 69 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
alter Farbkasten
das Blau
mit dem ich früher
den Himmel malte
Bernadette Duncan
Wer seinen alten Farbkasten aus der Schulzeit wieder herauskramt oder findet, mag von einer gewissen Melancholie ergriffen werden. Da steigen vielleicht die Stunden des Malunterrichts wieder hoch oder der Gedanke kommt, was man damals nicht alles gemalt hat …
Hier ist es die Farbe Blau, die den Haiku-Schreiber an etwas erinnert. Die Erinnerung ist zunächst nicht spektakulär: Das Blau brauchte er für den Himmel, den er damals, früher, malte … Vielleicht ist es dieser beiläufige Satz „das Blau mit dem ich früher den Himmel malte“ – der (ihn) stutzen lässt und der Fragen weckt:
Warum bemerkt er gerade das Blau? Ist es besonders verbraucht, weil er viel Himmel gemalt hat? Warum hat er viel Himmel gemalt? Wieviel Ton liegt auf dem Adverb „früher“? Würde / könnte er heute nicht mehr so viel Himmel malen – und wenn nein, warum nicht?
So wie das in Tee getunkte Gebäck der Madeleine für den französischen Schriftsteller Marcel Proust (1871-1922) Erinnerungen an seine Kindheit evozierte, mag dem Haiku-Schreiber das Farbtöpfchen „Blau“ seine Kindheit in Erinnerung rufen – und im Vergleich dazu die Gegenwart …
Schönes blaues Haiku!