Top-extra Oktober 2019

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

vor dem Tauchen
zwei Freunde
die schweigen

Bernadette Duncan

 

am Sterbebett
ihr Strickzeug
entwirren

Barbara Hagemann

 

Die Schatten schon
in die Felder geschmiegt –
Ende des Sommers.

Beate Conrad

 

Hagebutten
Opa erklärt das Rezept
für Juckpulver

Friedrich Winzer

 

kurvige landstraße
die bremsspuren enden
an einem holzkreuz

Tobias Tiefensee

 

Ssssommernacht –
am Kinderbett das Schlaflied
einer Mücke

Angelica Seithe

 

Parkplatz
ich lese einen fremden
Einkaufszettel

Friedrich Winzer

 

Unwetter
Zwei Sangria lang
geht die Welt unter

Hans-Jürgen Göhrung

 

Sonnenaufgang,
eine Pappel applaudiert,
Müdigkeit.

Leon

 

Stille umgibt
Die Wespe
Auf meiner Hand

Iris Ziesemer

 

Im September 2019 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 314 Haiku von 70 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

vor dem Tauchen
zwei Freunde
die schweigen

Bernadette Duncan

Beeindruckend finde ich, dass dieses Haiku seine Pointe aus einer akustisch-menschlichen Beobachtung bezieht. Der hier beschriebene Augenblick, das „Setting“, ist der Moment vor dem gemeinsamen Tauchen zweier Freunde.

(Von einer strengen Observanz des Haiku her könnte man natürlich einwenden, dass man „Freundschaft“ nicht sieht. Von daher vielleicht ein grenzwertiges Haiku?!)

Das (Sport-) Tauchen hat seine eigenen Gesetze und Risiken. Ich bin kein Taucher, aber mir ist wie jedem nachvollziehbar: Wer taucht, muss vorher alles genau prüfen und sich dabei unbedingt konzentrieren. Unter Umständen hängt davon das eigene Leben und das des beteiligten Sportkameraden ab. Unter Wasser müssen die Taucher sich aufeinander verlassen und wortlos miteinander kommunizieren können.

Wenn zwei befreundete Taucher sich auf einen Tauchgang vorbereiten, vermischen sich zwei unterschiedliche Rollen. Es ist einerseits das Schweigen von Freunden, die sich aus erprobter Nähe und Erfahrung „stillschweigend“ verstehen – und es ist das Schweigen von Tauch-Kameraden, die sich aus reiner Notwendigkeit „stillschweigend“ verstehen müssen.

Man kann sagen: Das Schweigen „spricht doppelt“ – es wird multivalent. Und das macht für mich den Reiz des Haiku aus.