und Haiku-Besprechung
von René Possél
krankenstation
die rufe
der lebenden
Michaela Kiock
Weinberg …
unsere Schatten
duftend
Kaiser Kahn
Zeitumstellung –
Opa sitzt allein
am Frühstückstisch
Marita Bagdahn
das Kleid
welches mir so gefiel
an ihr
Anke Holtz
der Zwetschgenkuchen
die Wespen und ich
Erntedankfest
Gérard Krebs
königsallee
vor louis vuitton
kniet ein bettler
Tobias Tiefensee
Morgenfrühe –
aus dem Gold geschnitten
der Kirchturm
Angelica Seithe
Wachsfigurenkabinett
am Ausgang streicht sie
über seine Wange
Marita Bagdahn
Beisetzung
zum Abschied
ein Vogelkonzert
Dorothea Philipps
Blätter im Wind …
ich lösche
meine alten Kontakte
Eva Limbach
Im Oktober 2019 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 372 Haiku von 77 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
krankenstation
die rufe
der lebenden
Michaela Kiock
Manchmal mag ich es ziemlich einfach – so wie dieses Haiku. Es ist einfach übersichtlich: Fünf Worte, verteilt auf drei Zeilen. Und es ist mit dem ersten Lesen einfach verständlich, denn: Was gibt es da schon groß zu verstehen?
Es ist doch nur die Beschreibung der Tatsache, dass der Lärm auf einer Krankenstation eher vom Personal, den Lebenden, ausgeht. Die rufen sich halt ab und an was zu. Z.B. Geh mal in dies Zimmer! Tu mal jenes! Hast du schon? Oder etwas dramatischer: „Schnell …!“
Der Reiz des Haiku erschließt sich am ehesten mit dem Ungesagten. Nicht gesagt wird u.a., dass die Kranken, die Hauptpersonen dieser Station, sich am wenigsten akustisch bemerkbar machen. Sie liegen da in ihren Zimmern und leiden meistens still vor sich hin. An den Geräuschen des Lebens, der Lebenden, sind sie kaum beteiligt. Sie schweigen oder äußern sich wenn, dann nur leise: wimmernd, jammernd oder bittend, wie es ihnen in ihrer Rolle zukommt. Mag sein, dass es auf der psychiatrischen Station anders zugeht, wenn die Patienten noch nicht sediert oder sonst ruhiggestellt sind …
So gesehen (oder besser: gehört?!) erscheinen die Geräusche, die Stimmen und Rufe der Lebenden, wie eine Demonstration: Hört her, wir leben! Wir sind nicht krank, leidend oder sterbend!
Eine Krankenstation auf diese Weise akustisch wahrzunehmen und so das Nachdenken über das unmittelbare Zusammenleben und den Unterschied von Kranken und Gesunden anzuregen – das ist eben die Überraschung, die ein Merkmal guter Haiku ist.