Top-Extra November 2019

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

krankenstation
die rufe
der lebenden

Michaela Kiock

 

Weinberg …
unsere Schatten
duftend

Kaiser Kahn

 

Zeitumstellung –
Opa sitzt allein
am Frühstückstisch

Marita Bagdahn

 

das Kleid
welches mir so gefiel
an ihr

Anke Holtz

 

der Zwetschgenkuchen
die Wespen und ich
Erntedankfest

Gérard Krebs

 

königsallee
vor louis vuitton
kniet ein bettler

Tobias Tiefensee

 

Morgenfrühe –
aus dem Gold geschnitten
der Kirchturm

Angelica Seithe

 

Wachsfigurenkabinett
am Ausgang streicht sie
über seine Wange

Marita Bagdahn

 

Beisetzung
zum Abschied
ein Vogelkonzert

Dorothea Philipps

 

Blätter im Wind …
ich lösche
meine alten Kontakte

Eva Limbach

 

Im Oktober 2019 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 372 Haiku von 77 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

krankenstation
die rufe
der lebenden

Michaela Kiock

 

Manchmal mag ich es ziemlich einfach – so wie dieses Haiku. Es ist einfach übersichtlich: Fünf Worte, verteilt auf drei Zeilen. Und es ist mit dem ersten Lesen einfach verständlich, denn: Was gibt es da schon groß zu verstehen?

Es ist doch nur die Beschreibung der Tatsache, dass der Lärm auf einer Krankenstation eher vom Personal, den Lebenden, ausgeht. Die rufen sich halt ab und an was zu. Z.B. Geh mal in dies Zimmer! Tu mal jenes! Hast du schon? Oder etwas dramatischer: „Schnell …!“

Der Reiz des Haiku erschließt sich am ehesten mit dem Ungesagten. Nicht gesagt wird u.a., dass die Kranken, die Hauptpersonen dieser Station, sich am wenigsten akustisch bemerkbar machen. Sie liegen da in ihren Zimmern und leiden meistens still vor sich hin. An den Geräuschen des Lebens, der Lebenden, sind sie kaum beteiligt. Sie schweigen oder äußern sich wenn, dann nur leise: wimmernd, jammernd oder bittend, wie es ihnen in ihrer Rolle zukommt. Mag sein, dass es auf der psychiatrischen Station anders zugeht, wenn die Patienten noch nicht sediert oder sonst ruhiggestellt sind …

So gesehen (oder besser: gehört?!) erscheinen die Geräusche, die Stimmen und Rufe der Lebenden, wie eine Demonstration: Hört her, wir leben! Wir sind nicht krank, leidend oder sterbend!

Eine Krankenstation auf diese Weise akustisch wahrzunehmen und so das Nachdenken über das unmittelbare Zusammenleben und den Unterschied von Kranken und Gesunden anzuregen – das ist eben die Überraschung, die ein Merkmal guter Haiku ist.