Top-Extra Januar 2020

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

der alte Borsalino …
ich borge mir
Vaters Traum

Eva Limbach

 

Ehestreit
das Kind zeigt den Eltern
den Regenbogen

Kaiser Kahn

 

Enzyklopädie
zwischen Goldschnitt
vierblättriger Klee

Helga Schulz Blank

 

Herbst
Blättercollagen
auf dem Asphalt

Ingrid Löbling

 

bis ich dich
nicht mehr sehe …
Schnee

Adrian Bouter

 

Plätzchen backen
jetzt summe ich
Omas Lieder

Eleonore Nickolay

 

siehe ich verkündige
der Bühnenengel
verliert den Faden

Martin Berner

 

vor der Sparkasse
wirft der alte Gingko
sein Gold ab

Helga Schulz Blank

 

wintergestirne des novizen offener blick

Helga Stania

 

zwischen den Jahren
sie zählt
ihre Lachfältchen

Eleonore Nickolay

 

Im Dezember 2019 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 285 Haiku von 64 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

der alte Borsalino …
ich borge mir
Vaters Traum

Eva Limbach

Dass ein Markenname wie „Borsalino“ für einen bekannten Hut derart viele Assoziationen und Bilder, ja, Träume hervorrufen kann! Von diesem Phänomen lebt das ungewöhnliche Haiku.

„Borsalino“ ist der Name und die Marke eines italienischen Herstellers von Herrenhüten – Giuseppe Borsalino aus Piemont. Bekannt wurde der Hut dadurch, dass ihn Politiker und Mafia-Bosse, vor allem aber berühmte Schauspieler und Sänger ab Mitte des 20. Jahrhunderts trugen: Winston Churchill und Al Capone, Humphrey Bogart und Marlon Brando, Michael Jackson und viele andere …

In diesem Haiku geht es um „den alten Borsalino des Vaters“. Darin schwingen das Leben und die Persönlichkeit des Vaters mit (verstorbenen/lebend?), für den dieser Hut „ein Traum“ war/ist. Die zweite Zeile des Haiku beginnt ganz harmlos: „ich borge mir“. Das evoziert das Bild des Sohnes, der den Hut des Vaters einfach mal ausprobieren möchte. Erst mit der dritten und letzten Zeile öffnet sich (haiku-like) Raum für das Ungesagte bzw. Un-sagbare:

Es ist die Vermutung, dass der Vater mit dem Hut bestimmte Träume und Sehnsüchte verband/verbindet. Das bringt ihn dem Sohn näher. Welche Träume das sind, wird nicht gesagt – es bleibt einfach offen. Im „Borgen des Borsalino“ (hübsche Alliteration!) kommt zugleich die Würdigung des Vaters wie auch die „Nähe ihrer Träume“ d.h. die Verbindung im Unbewussten von Vater und Sohn zum Ausdruck.

Ist das Haiku nicht auch eine Hommage an diese altmodischen traumhaften Hüte und ihre Träger?!