und Haiku-Besprechung
von René Possél
allein
zuschauen
wie es Nacht wird
Christof Blumentrath
kinderspielplatz
mit der schaukel spielt
nur der wind
Tobias Tiefensee
keine Termine –
ich male Blumen
in meine Agenda
Eleonore Nickolay
Quarantäne
sorgsam legt sie ihr Schweigen
zwischen die Wäsche
Ramona Linke
trauzimmer
sein blick wandert hinüber
zum fluchtwegeplan
Tobias Tiefensee
beim Aussortieren
zwischen alten Arztberichten
mein Testament
Anke Holtz
der sanfte Bach
nach langem Regen
mit wilder Stimme
Gabi Buschmann
geschlossene Schulen
ein Mädchen malt
die Lehrerin
Ruth Karoline Mieger
morgens
eine Taube
mit Zweig im Schnabel
Ingrid Meinerts
Ostergeschenk
Die neue Puppe muss erst
in Quarantäne
Hans-Jürgen Göhrung
Im März 2020 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 316 Haiku von 67 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
allein
zuschauen
wie es Nacht wird
Christof Blumentrath
Kann man im Haiku die Zeit darstellen? Ich meine, es gelingt hier – mit einfachen Mitteln. Da hat jemand viel Zeit zu schauen, wie der Tag vergeht und die Nacht beginnt. Das Erwähnen bringt die dabei verstreichende Zeit zu Bewusstsein.
Das ist nicht alles. Wie kommt jemand auf den Gedanken, die Zeit selber wahrzunehmen im Verlöschen des Tages und im Werden der Nacht? Welche Befindlichkeit, welcher Seelenzustand kennzeichnet jemanden, der das Dunkelwerden des hellen Tages ausmisst und erkennt? Die Antwort liegt im Wort der ersten Zeile.
Da ist jemand allein. Es wird nicht gesagt, dass er einsam sei. Alleinsein ist selbst gewählt und muss nicht unangenehm sein. Einsamkeit kann ungewollt und belastend sein. Die Tatsache, dass hier einer etwas beobachtet und mitbekommt, was man sonst nicht beachtet, spricht für ein bewusstes Tun.
Einfach und klar ist das Haiku; es lässt Rückschlüsse zu. Komplexer scheint die menschliche Situation dahinter. Dass ein Haiku das Vergehen der Zeit festhält und die besondere Empfänglichkeit dafür, ist ungewöhnlich. Ein denk-würdiges Haiku.