Top-Extra Juli 2020

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

Zoom-Konferenz
in der Tiefe des Raums
ein Seufzen

Gabriele Hartmann

 

alte Buche
das Gewicht
des Schattens

Stefanie Bucifal

 

Tag für Tag
das Blinken der Nummern
im Jobcenter

Friedrich Winzer

 

im alten Angelboot
vertäut
das Morgenlicht

Claus Hansson

 

auf dem Arm –
das Kind schaut still
den Weg zurück

Gerd Börner

 

Kinderlos
auf der Schaukel
der Wind

Elke Bonacker

 

altes Hochzeitsfoto
der Abstand
zwischen ihnen

Ruth Karoline Mieger

 

Nachlass-
jetzt zeigt ihre Uhr
mir die Zeit an

Marianne Kunz

 

Morgengrauen
den Thriller
fast durch

Pitt Büerken

 

große Hitze
die Schaufensterpuppen
ohne Kleider

Cezar-Florin Ciobîcă

 

Im Juni 2020 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 371 Haiku von 74 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

Zoom-Konferenz
in der Tiefe des Raums
ein Seufzen

Gabriele Hartmann

 

In der Zeit des lock-down der Pandemie hat die Notwendigkeit der medialen beruflichen Kommunikation von Gruppen zugenommen: Einander fern sehen im „home office“ ohne sich im Betrieb räumlich nahe zu sein; miteinander reden und sich zuhören – nicht im Büro der Firma, sondern von Wohnzimmer zu Wohnzimmer.

Die jetzt mehr genutzten Möglichkeiten bringen auch neue Unwägbarkeiten, Überraschungen mit sich. Wer von zu Hause aus an einer Konferenz mitwirkt, kann die häuslichen Umstände oder Zwischenfälle nicht immer ausschließen.

Von einer solchen Erfahrung lebt dieses Haiku. Da findet eine „Zoom-Konferenz“ statt, ein Meeting per Video quasi von Wohnzimmer zu Wohnzimmer. Man sieht hinter den Konferenzpartnern dabei oft einen (häuslichen) Raum. Und der hat offenbar seine eigene Dynamik und auch seine Seltsamkeiten.

Da ertönt während einer Konferenz plötzlich „in der Tiefe des Raums“ (ein bekannter Ausdruck aus der Welt des Fußballs; hier mit neuer, geheimnisvoller Bedeutung gefüllt) „ein Seufzen“. Niemand ist zu sehen, Person und Kontext bleiben verborgen – aber das Seufzen ist zu hören und regt die Phantasie an, was da geschehen sein mag und was dieser Laut bedeutet. Vieles ist möglich – mit Bezug zur Konferenz oder auch völlig ohne …

Der gut eingefangene Haiku-Moment kann auch ein Hinweis darauf sein, dass „jeder Mensch seine eigene, geheime, persönliche Welt hat“ (J. Jewtuschenko). Normaler Weise ist uns dies alles verborgen; aber es blitzt eben manchmal un-freiwillig auf, wenn wir uns in der Ferne der heimischen Welten neuerdings nahekommen – wie in diesem zeit-typischen Haiku mit dem „Seufzen in der Tiefe des Raums“.