und Haiku-Besprechung
von René Possél
Zoom-Konferenz
in der Tiefe des Raums
ein Seufzen
Gabriele Hartmann
alte Buche
das Gewicht
des Schattens
Stefanie Bucifal
Tag für Tag
das Blinken der Nummern
im Jobcenter
Friedrich Winzer
im alten Angelboot
vertäut
das Morgenlicht
Claus Hansson
auf dem Arm –
das Kind schaut still
den Weg zurück
Gerd Börner
Kinderlos
auf der Schaukel
der Wind
Elke Bonacker
altes Hochzeitsfoto
der Abstand
zwischen ihnen
Ruth Karoline Mieger
Nachlass-
jetzt zeigt ihre Uhr
mir die Zeit an
Marianne Kunz
Morgengrauen
den Thriller
fast durch
Pitt Büerken
große Hitze
die Schaufensterpuppen
ohne Kleider
Cezar-Florin Ciobîcă
Im Juni 2020 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 371 Haiku von 74 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
Zoom-Konferenz
in der Tiefe des Raums
ein Seufzen
Gabriele Hartmann
In der Zeit des lock-down der Pandemie hat die Notwendigkeit der medialen beruflichen Kommunikation von Gruppen zugenommen: Einander fern sehen im „home office“ ohne sich im Betrieb räumlich nahe zu sein; miteinander reden und sich zuhören – nicht im Büro der Firma, sondern von Wohnzimmer zu Wohnzimmer.
Die jetzt mehr genutzten Möglichkeiten bringen auch neue Unwägbarkeiten, Überraschungen mit sich. Wer von zu Hause aus an einer Konferenz mitwirkt, kann die häuslichen Umstände oder Zwischenfälle nicht immer ausschließen.
Von einer solchen Erfahrung lebt dieses Haiku. Da findet eine „Zoom-Konferenz“ statt, ein Meeting per Video quasi von Wohnzimmer zu Wohnzimmer. Man sieht hinter den Konferenzpartnern dabei oft einen (häuslichen) Raum. Und der hat offenbar seine eigene Dynamik und auch seine Seltsamkeiten.
Da ertönt während einer Konferenz plötzlich „in der Tiefe des Raums“ (ein bekannter Ausdruck aus der Welt des Fußballs; hier mit neuer, geheimnisvoller Bedeutung gefüllt) „ein Seufzen“. Niemand ist zu sehen, Person und Kontext bleiben verborgen – aber das Seufzen ist zu hören und regt die Phantasie an, was da geschehen sein mag und was dieser Laut bedeutet. Vieles ist möglich – mit Bezug zur Konferenz oder auch völlig ohne …
Der gut eingefangene Haiku-Moment kann auch ein Hinweis darauf sein, dass „jeder Mensch seine eigene, geheime, persönliche Welt hat“ (J. Jewtuschenko). Normaler Weise ist uns dies alles verborgen; aber es blitzt eben manchmal un-freiwillig auf, wenn wir uns in der Ferne der heimischen Welten neuerdings nahekommen – wie in diesem zeit-typischen Haiku mit dem „Seufzen in der Tiefe des Raums“.