und Haiku-Besprechung
von René Possél
Demenzstation
eine Frau singt
Nun danket alle Gott
Martin Berner
auf dem Markusplatz –
unter den Sohlen
das Atelier der Tauben
Gerd Börner
Pariserin
im Schaufenster überprüft sie
den Sitz ihrer Maske
Eleonore Nickolay
Sommerende
ich überlasse das Chalet
einer Spinne
Eleonore Nickolay
letzter Arbeitstag
auf einmal so leicht
der Schlüsselbund
Anke Holtz
Am Telefonhäuschen:
Hörgerät verloren.
Bitte um Rückruf …
Winfried Benkel
am fahrrädchen
ein beutel kastanien
vergessen im mondlicht
Benno Schmidt
Abbruchhaus
im kleinen Zimmer unversehrt
die Strandtapete
Anke Holtz
auf der Leine
die Wäsche eingefärbt
vom Abendlicht
Angelica Seithe
trauerzug
in seinem sarg spiegelt sich
der himmel
Tobias Tiefensee
Im September 2020 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 359 Haiku von 72 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
Demenzstation
eine Frau singt
Nun danket alle Gott
Martin Berner
Es erscheint eindeutig: „Sie weiß nicht, was sie tut!“ Eine Frau, Patientin der Demenzstation, dankt singend Gott. Die Umstände legen nahe, ihr Verhalten nicht ernst zu nehmen.
Das Haiku entwickelt sich ganz undramatisch. In der ersten Zeile der Rahmen: Die Demenzstation. In der zweiten: Das ungewöhnliche Singen einer Frau. Das kann man mit Toleranz und allgemeinem Verständnis für diese Alterskrankheit und ihre Phänomene akzeptieren.
In der dritten Zeile folgen Art und Titel des Liedes, das die Frau singt: Es ist ein Kirchenlied. Die Aufforderung, Gott zu danken. Man denkt: eine gelernte religiöse Übung aus der Kindheit oder Lebensgeschichte und unter diesen Umständen eine Ironie des Schicksals …
Solche Erklärungen mögen helfen, die Pointe zu „entschärfen“ … Denn die Dank-Adresse ist: Gott, „jener widerspenstige Einsilber“ (Georges Steiner). Er übersteigt die formale Silbenzahl der 3. Zeile.
Es bleibt womöglich ein Anstoß: Da lädt jemand ein, Gott zu danken in einer menschlichen Situation, die zum Singen und Danken kaum geeignet erscheint …
Ein schlichtes und, aus meiner Sicht, „denk-anstößiges“ Haiku!