Top-Extra Oktober 2020

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

Demenzstation
eine Frau singt
Nun danket alle Gott

Martin Berner

 

auf dem Markusplatz –
unter den Sohlen
das Atelier der Tauben

Gerd Börner

 

Pariserin
im Schaufenster überprüft sie
den Sitz ihrer Maske

Eleonore Nickolay

 

Sommerende
ich überlasse das Chalet
einer Spinne

Eleonore Nickolay

 

letzter Arbeitstag
auf einmal so leicht
der Schlüsselbund

Anke Holtz

 

Am Telefonhäuschen:
Hörgerät verloren.
Bitte um Rückruf …

Winfried Benkel

 

am fahrrädchen
ein beutel kastanien
vergessen im mondlicht

Benno Schmidt

 

Abbruchhaus
im kleinen Zimmer unversehrt
die Strandtapete

Anke Holtz

 

auf der Leine
die Wäsche eingefärbt
vom Abendlicht

Angelica Seithe

 

trauerzug
in seinem sarg spiegelt sich
der himmel

Tobias Tiefensee

 

Im September 2020 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 359 Haiku von 72 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

Demenzstation
eine Frau singt
Nun danket alle Gott

Martin Berner

Es erscheint eindeutig: „Sie weiß nicht, was sie tut!“ Eine Frau, Patientin der Demenzstation, dankt singend Gott. Die Umstände legen nahe, ihr Verhalten nicht ernst zu nehmen.

Das Haiku entwickelt sich ganz undramatisch. In der ersten Zeile der Rahmen: Die Demenzstation. In der zweiten: Das ungewöhnliche Singen einer Frau. Das kann man mit Toleranz und allgemeinem Verständnis für diese Alterskrankheit und ihre Phänomene akzeptieren.

In der dritten Zeile folgen Art und Titel des Liedes, das die Frau singt: Es ist ein Kirchenlied. Die Aufforderung, Gott zu danken. Man denkt: eine gelernte religiöse Übung aus der Kindheit oder Lebensgeschichte und unter diesen Umständen eine Ironie des Schicksals …

Solche Erklärungen mögen helfen, die Pointe zu „entschärfen“ … Denn die Dank-Adresse ist: Gott, „jener widerspenstige Einsilber“ (Georges Steiner). Er übersteigt die formale Silbenzahl der 3. Zeile.

Es bleibt womöglich ein Anstoß: Da lädt jemand ein, Gott zu danken in einer menschlichen Situation, die zum Singen und Danken kaum geeignet erscheint …

Ein schlichtes und, aus meiner Sicht, „denk-anstößiges“ Haiku!