Top-Extra Dezember 2020

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

letzter Brief
zwischen den Zeilen
nichts

Dyrk-Olaf Schreiber

 

Kontaktbeschränkung
ein alter Mann im Laden
hamstert Gespräche

Sylvia Hartmann

 

die Turmuhr
fünf nach zwölf
lange schon

Gregor Graf

 

Allerseelen
dein Lächeln
auf meinen Lippen

Eleonore Nickolay

 

ruheforst
im herbstlaub
rosenblätter

Tobias Tiefensee

 

Sonnenaufgang
ein Güterzug erklärt
die Einsamkeit

Adrian Bouter

 

früher abschied …
wir haben einander
allzeit gesiezt

Ramona Linke

 

frühschicht
ein verirrter schmetterling
im bus

Martin Speier

 

Morgenhimmel
Unter der Milchhaut
der Rest des Tages

Birgit Zeller

 

neubau
selbst der vogelschiss
wirkt elegant

Tobias Krissel

 

Im November 2020 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 373 Haiku von 75 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

letzter Brief
zwischen den Zeilen
nichts

Dyrk-Olaf Schreiber

?

 

Ein Haiku, das mit seiner dramatischen Geschichte in sechs Worten an das berühmte Original der „six word story“ erinnert. (Fälschlich wird angenommen, dass Ernest Hemingway sie erfunden hat*).

Welche Geschichte wird hier erzählt, welches Drama steckt darin, wie wird Spannung erzeugt, die zu einer so extrem kurzen Geschichte gehört wie auch zum Haiku, dem kürzesten Gedicht der Weltliteratur?

„Letzter Brief“ heißt das Intro. Man denkt an einen Abschiedsbrief. Ob es sich um einen gewöhnlichen Abschied handelt oder um einen endgültigen (Suizid?), bleibt hier offen. Schon das weckt die Neugier.

Dass ein Abschiedsbrief besonders aufmerksam gelesen wird, ist verständlich. Zur besonderen Aufmerksamkeit bei der Lektüre gehört das sprichwörtlich gewordene „Lesen zwischen den Zeilen“. Was steht im „letzten Brief“, was über das ausdrücklich Geschriebene hinausgeht? Diese durchaus berechtigte Frage wird mit der zweiten Zeile suggeriert.

Die dritte Zeile bringt die Überraschung – für den Leser des tatsächlichen Briefes wie für den Leser des Haiku. Ein Wort bricht den Spannungsbogen, der durch die beiden ersten Zeilen gekonnt hergestellt wurde.

Die dritte Zeile besteht aus dem einen Wort „nichts“. Keine Nachricht, keine Botschaft, keine Erklärung steckt offenbar in dem Abschiedsbrief. Was bleibt, ist Ratlosigkeit, Enttäuschung und eine gewisse Ernüchterung. Welcher Art auch immer der Abschied war, ob trivial oder existentiell, der Brief gibt dem Leser Aufschluss nur durch die geschriebenen Zeilen, nicht „zwischen den“ Zeilen.

* https://zeilenhacker.de/shortstory/