und Haiku-Besprechung
von René Possél
schneewolken
ein kind erzählt mir
die geschichte des himmels
Michaela Kiock
die Augen des Frühchen
und die Faust
diese Faust
Anke Holtz
das alte Paar
die Frau zupft seinen Mundschutz
zurecht
Ingrid Löbling
wieder spricht Vater
vom Sterben
des Quittenbaumes
Anke Holtz
Kondolenz
mit dem Kugelschreiber
durch Tränen
Friedrich Winzer
Nach dem Schauer
Erkennt sich der Baum
In der Pfütze
Monika Fischer
Winterdunst –
die Windräder wie
weggewischt
Angelica Seithe
sitzbank am kai
ein boot nimmt die möwen mit
in den morgennebel
Benno Schmidt
Weihnachten
„Drei stille Messen“
und ein Kalvados
Heiner Brückner
neujahr
in der pfütze von gestern
die weite des himmels
Michaela Kiock
Im Dezember 2020 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 332 Haiku von 67 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
schneewolken
ein kind erzählt mir
die geschichte des himmels
Michaela Kiock
Ein die Phantasie anregendes, surreales Haiku, das sich einem Kind verdankt, und dass zudem die klassische Form souverän ignoriert …
Ausgangspunkt sind schnee-lastige Wolken am Himmel. „Ein Kind“, davon inspiriert, beginnt, dem/ der erwachsenen Autor/-in phantasievoll darüber zu erzählen – Thema: „Die Geschichte des Himmels“.
„Geschichte“ ist eigentlich etwas, was dem Menschen und der von ihm geschaffenen Welt vorbehalten ist: Die Abfolge, Veränderung und Entwicklung der Phänomene in der vergangenen Zeit, durch die jeweiligen Umstände und den eigenen Einfluss des Menschen.
„Himmel, Wolken, Schnee“ dagegen sind, was sich durch die Eigengesetzlichkeit der Natur permanent, ohne Einfluss des Menschen, verändert und immer neu formt. Der Himmel hat keine Geschichte.
Wer käme nun auf den Gedanken, eine „Geschichte des Himmels“ zu erzählen wie man eben die Geschichte der Menschen erzählt? Das bleibt der Phantasie eines Kindes vorbehalten. Die entzündet sich daran, was es als Schauspiel der Schneewolken am Himmel sieht.
Wen von uns interessierte nicht brennend, wie diese von einem Kind erzählte „Geschichte des Himmels“ tatsächlich lautet?! Der Reiz des Haiku besteht auch in dem, was nicht mehr „inhaltlich“ erzählt wird, sondern unserer eigenen (kindlichen) Phantasie überlassen bleibt …