und Haiku-Besprechung
von René Possél
Großvaters Taschenuhr
immer wieder vergisst sie
die Zeit
Brigitte ten Brink
Schnee
der Nachbar
schippt die Einfahrt grau
Stefanie Bucifal
auf ihrem weißen Haar
eine weiße Mütze
aus Schneeflocken
Angelika Holweger
früher abend
auch die heizung
redet mit sich selbst
Tihomir Popović
Krähenschrei –
jemand tritt aus der Wand
des Nebels.
Beate Conrad
Weckerklingeln
du rollst
in meine warme Kuhle
Anke Holtz
sein altes piratenschiff
fest verankert
im staubmeer
Tihomir Popović
Winterschlussverkauf
nur Lust auf
neue Pyjamas
Eleonore Nickolay
wintereinsam –
ein Baum wurzelt
in seinem Spiegelbild
Angelica Seithe
Winterwind
plappernd begleitet mich
ein Pappbecher
Eleonore Nickolay
Im Januar 2021 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 361 Haiku von 79 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
Großvaters Taschenuhr
immer wieder vergisst sie
die Zeit
Brigitte ten Brink
Wie kann man, in der Kürze des Haiku, „die Zeit“ deutlich machen – die alle Menschen bestimmt, aber so unterschiedlich gefühlt wird?
Dies Haiku geht aus von der Uhr, dem klassischen Zeitmesser. Doch es ist eine Uhr, die gewissermaßen zwei Zeiten anzeigt: Die Kennzeichnung „Großvaters Taschenuhr“ – das ist nicht nur der einfache Zeitmesser; sie stellt auch eine vergangene Zeit und den Bezug zu einer bestimmten (alten) Person dar.
Im Spiel mit diesen beiden Bedeutungsebenen macht der Autor/die Autorin eine originelle, menschliche Aussage über die Zeit.
Großvaters Uhr bleibt immer wieder stehen und zeigt dann eine falsche Zeit. Wir wissen: die Uhr ist ein mechanisches Konstrukt. Es spielt keine Rolle, wem sie gehört. Sie bleibt stehen, weil das Uhrwerk alt, ausgeleiert oder verharzt ist. Die Tatsache wird aber so formuliert, als verhalte sich die Uhr genauso vergesslich, wie es manchmal ein Großvater sein kann …
Die Verbindung mit dem Wort „Großvater“ und der Vergesslichkeit eines alten Menschen verrät uns im Kontrast mehr über „das Phänomen Zeit“ als es der bloße Hinweis auf Mechanik und Abnutzung könnte.