und Haiku-Besprechung
von René Possél
Tauwetter
durch die Straßen fließt
der Himmel
Christa Beau
Frühling
Ich rieche die Blumen
in deinen Worten
Hans-Jürgen Göhrung
In ihrem Tagebuch
nur noch
die Kontakte
Marita Bagdahn
Inzidenzrate
Keiner nimmt die Maske ab
am Aschermittwoch.
Heiner Brückner
Kuschelbedarf
der Witwer hat jetzt
einen Welpen
Christa Beau
Mit Butter und Salami
klebe ich das Knäckebrot
wieder zusammen.
Christiane Freimann
Mittagshitze
die Cowboys fletschen
ihre Milchzähne
Taiki Haijin
nach der gartenarbeit –
meine alte hose
hat ein neues loch
Claus-Detlef Großmann
so verlassen liegt er da
der rosmarinzweig
auf dem hüftsteak
Tihomir Popović
Winterzeit
wie dunkel
die Lichtung
Eleonore Nickolay
Im Februar 2021 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 354 Haiku von 66 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
Tauwetter
durch die Straßen fließt
der Himmel
Christa Beau
„Nahezu klassische Stories“ heißt ein Erzählband des amerikanischen Schriftstellers Harold Brodkey. Ein „nahezu klassisches Haiku“ scheint mir dieses Haiku zu sein. Unterhalb zwar der klassischen Silbenzahl von siebzehn Silben, aber traditionell mit Jahreszeitenwort und Zäsur nach dem „Tauwetter“ sowie der überraschenden Pointe in der dritten Zeile …
Die Vorstellung des Hörers oder Lesers nach den beiden ersten Zeilen bewegt sich zunächst auch im klassischen Rahmen: Wenn es taut, fließt durch die Straßen natürlich das Tauwasser des geschmolzenen Schnees.
Die dritte Zeile sprengt nun die „gewöhnliche Vorstellung“ vom Tauwetter. Genauer gesagt: Nicht auf das Schmelzwasser geht der Focus, sondern auf den sich darin spiegelnden Himmel. Damit bekommt im Nachhinein auch das Fließen des Wassers durch die Straßen eine neue, andere Bedeutung:
Der Himmel kommt auf die Erde! Nicht das Schmelzwasser des Schnees – und damit die Vergänglichkeit der weißen Pracht – steht im Vordergrund. Es steckt, im melancholisch stimmenden Vorgang des Vergehens der Natur, etwas anderes, Positives. Mit der Blickwendung zum „Himmel unter uns“ hellt das gelungene Haiku nicht nur das triste Wetter auf; es erhebt und erheitert (Haiku = heiterer Vers) „nahezu klassisch“ des Lesers Gemüt.