Top-Extra Juli 2021

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

erstes zartes Grün
an unserer Buche
im Friedwald

Ruth Karoline Mieger

 

Sommerregen
das neue Gesicht
des Clowns

Cezar-Florin Ciobîcă

 

Bäckersfrau
sie knetet ihr Lächeln
in den Teig

Christa Beau

 

Das neue Buch
ich lese
seinen Duft

Ingrid Meinerts

 

Gartenlokal
der Wind schickt mir die Rechnung
des Nachbarn

Ingrid Löbling

 

Ruhestandsbeginn –
Noch schmiert sie das Pausenbrot
für den Tag zuhaus

Lisa Oesterheld

 

Urlaubsende …
der Garten hat sich
neu arrangiert

Claudia Brefeld

 

Nach dem Hagelschlag:
Narben
Im Kohlrabi

Anna Vriede

 

faltrot
mutters
totenkleid

Matthias Gysel

 

EM-Finale
im Supermarkt bin ich
ohne Gegner

Stefanie Bucifal

 

Im Juni 2021 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 406 Haiku von 81 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

erstes zartes Grün
an unserer Buche
im Friedwald

Ruth Karoline Mieger

Die dritte Zeile dieses Haiku birgt eine ungewöhnliche Volte. Wenn man dem Bild und den Empfindungen der beiden ersten Zeilen des Haiku folgt, ist es nicht mehr als das Sich-erfreuen an einem selbst gepflanzten Baum. Und man fragt sich, warum das so erwähnenswert ist …

Die dritte Zeile „im Friedwald“ beleuchtet die beiden ersten neu. Der Friedwald ist eine seit über 20 Jahren neu eingeführte Form der Bestattung in der Natur. Die eingeäscherten Überreste eines Verstorbenen werden in einer kompostierbaren Urne unter einem Baum begraben. Der Baum kann vom Kunden zu Lebzeiten oder von den Angehörigen posthum ganz oder teilweise als Grab-Ort der Bestattung gekauft werden. Der Friedwald ist ein eigens dafür reserviertes Areal im Wald. Es gibt mittlerweile viele davon.

Hier hat wohl ein (älteres?!) Ehepaar zu Lebzeiten „seine Buche“ als Beerdigungsort im Fall des Falles gekauft. Und, wie es scheint, statten sie ihrem („unserm“) zukünftigen Grab öfter einen Besuch ab; in diesem Falle im Frühling, wenn am Baum das erste Grün sprießt.

Was aber will, neben der Überraschung, das Haiku in der „relecture“ durch das Wissen um einen Baum im Friedwald der Toten aussagen? Neben dem fast zärtlichen und augenscheinlich versöhnten Verhältnis zur eigenen Sterblichkeit ist der Hinweis auf das erste, zarte Grün der eigenen Buche vielleicht ein diffuser Ausdruck von Hoffnung. „Grün“ ist die Farbe der Hoffnung, erstes zartes Grün der Beginn von etwas Neuem – was? Die Autorin/der Autor regt mit dem Haiku womöglich Fragen um den Tod herum an, die ihn/sie selber umtreiben …

 

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