und Haiku-Besprechung
von René Possél
erstes zartes Grün
an unserer Buche
im Friedwald
Ruth Karoline Mieger
Sommerregen
das neue Gesicht
des Clowns
Cezar-Florin Ciobîcă
Bäckersfrau
sie knetet ihr Lächeln
in den Teig
Christa Beau
Das neue Buch
ich lese
seinen Duft
Ingrid Meinerts
Gartenlokal
der Wind schickt mir die Rechnung
des Nachbarn
Ingrid Löbling
Ruhestandsbeginn –
Noch schmiert sie das Pausenbrot
für den Tag zuhaus
Lisa Oesterheld
Urlaubsende …
der Garten hat sich
neu arrangiert
Claudia Brefeld
Nach dem Hagelschlag:
Narben
Im Kohlrabi
Anna Vriede
faltrot
mutters
totenkleid
Matthias Gysel
EM-Finale
im Supermarkt bin ich
ohne Gegner
Stefanie Bucifal
Im Juni 2021 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 406 Haiku von 81 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
erstes zartes Grün
an unserer Buche
im Friedwald
Ruth Karoline Mieger
Die dritte Zeile dieses Haiku birgt eine ungewöhnliche Volte. Wenn man dem Bild und den Empfindungen der beiden ersten Zeilen des Haiku folgt, ist es nicht mehr als das Sich-erfreuen an einem selbst gepflanzten Baum. Und man fragt sich, warum das so erwähnenswert ist …
Die dritte Zeile „im Friedwald“ beleuchtet die beiden ersten neu. Der Friedwald ist eine seit über 20 Jahren neu eingeführte Form der Bestattung in der Natur. Die eingeäscherten Überreste eines Verstorbenen werden in einer kompostierbaren Urne unter einem Baum begraben. Der Baum kann vom Kunden zu Lebzeiten oder von den Angehörigen posthum ganz oder teilweise als Grab-Ort der Bestattung gekauft werden. Der Friedwald ist ein eigens dafür reserviertes Areal im Wald. Es gibt mittlerweile viele davon.
Hier hat wohl ein (älteres?!) Ehepaar zu Lebzeiten „seine Buche“ als Beerdigungsort im Fall des Falles gekauft. Und, wie es scheint, statten sie ihrem („unserm“) zukünftigen Grab öfter einen Besuch ab; in diesem Falle im Frühling, wenn am Baum das erste Grün sprießt.
Was aber will, neben der Überraschung, das Haiku in der „relecture“ durch das Wissen um einen Baum im Friedwald der Toten aussagen? Neben dem fast zärtlichen und augenscheinlich versöhnten Verhältnis zur eigenen Sterblichkeit ist der Hinweis auf das erste, zarte Grün der eigenen Buche vielleicht ein diffuser Ausdruck von Hoffnung. „Grün“ ist die Farbe der Hoffnung, erstes zartes Grün der Beginn von etwas Neuem – was? Die Autorin/der Autor regt mit dem Haiku womöglich Fragen um den Tod herum an, die ihn/sie selber umtreiben …