Top-Extra September 2021

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

Tastentelefon
die Melodie ihrer Nummer
so vertraut

Gabriele Hartmann

 

brütende Hitze
das Gelb des Postautos
blasser als sonst

Pitt Büerken

 

Dating-App
mit einem Blick
wisch und weg

Claudia v. Spies

 

der regen läßt nach –
immer feiner gewoben
die stille …

Ruth Guggenmos-Walter

 

Ein erster Versuch
das kleine Mädchen küsst
den Plüschfrosch

Claudia v. Spies

 

Herrenhaus
der grimmige Blick
des Türklopfers

Friedrich Winzer

 

Oma und Opa –
Sie trägt seine
Brille

Anna Vriede

 

Urlaubsaufbruch
die aufgeräumte Wohnung
plötzlich fremd

Sylvia Hartmann

 

vor der Trauung
der Bräutigam zupft an der
engen Krawatte

Sylvia Hartmann

 

Wohnungssuche
das Kind baut ihr
eine Sandburg

Eleonore Nickolay

 

Im August 2021 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 340 Haiku von 76 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

Tastentelefon
die Melodie ihrer Nummer
so vertraut

Gabriele Hartmann

 

Ein Haiku, das ausgeht von der Technik des Tastentelefons. Kurze Erläuterung: 1977 wurden die Tastentelefone eingeführt. Die Wählscheibe wurde ersetzt durch große hochstehende Tasten. Diese erzeugten bei der Bedienung charakteristische Tonsignale.

In der zweiten Zeile wandelt sich das Haiku von der Erwähnung der Technik zur persönlichen Erinnerung. Eine bestimmte Nummernfolge ergibt immer dieselbe Tonfolge, man könnte sagen: eine zufällige „Melodie“. Wer „die Nummer seiner Liebsten“ häufig anruft, dem wird die Tonfolge „ihrer Nummer“ zu einer vertrauten Erkennungs-Melodie; denn die erinnert an „SIE“. Mir scheint das „so vertraut“ überflüssig; es engt den Nachhall auf eine einzige Vorstellung ein. Könnte man nicht die 3. Zeile ganz weglassen und stattdessen den zweiten Teil der 2. Zeile in die dritte ziehen, nämlich so:

Tastentelefon
die Melodie
ihrer Nummer

Mit der Verknappung bekäme das Haiku auch die überraschende Wendung in der dritten Zeile und große Offenheit des Nachhalls. Der könnte enthalten, was im Original die dritte Zeile ausspricht: Die Vertrautheit – aber darüber hinaus auch anderes Ungesagte: nämlich Vorfreude, Erinnerung, Evokation usw. Ich hoffe, dem Autor/der Autorin mit diesem Vorschlag nicht zu nahe zu treten. Für mich ist es insgesamt ein gutes Haiku, das durch Weglassen der dritten Zeile noch besser werden kann.