und Haiku-Besprechung
von René Possél
gelbe Tonne
zwei Nachbarinnen sortieren
Gerüchte
Eleonore Nickolay
Pantomime
ein Taubstummer
antwortet
Friedrich Winzer
Opa und Enkel
bringen den Kürbis
zum Grinsen
Rosemarie Schuldes
Wurststand
hinter mir drängelt
ein Hund
Stefanie Bucifal
Trennung
jetzt umarmt sie
Bäume
Friedrich Winzer
fremder Spaziergänger
heute
grüße ich ihn
Stefanie Bucifal
nach dem Regenguss
das Aufatmen der Bäume
einatmen
Petra Fischer
ihr erster Geburtstag
im Heim
Bitterschokoladenkuchen
Ruth Karoline Mieger
Den erschöpften
Pizzaboten fragen
Schon gegessen
Iris Ziesemer
aufgewühlt
ich lese aus den Falten
meiner Bettdecke
Birgit Heid
Im September 2021 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 353 Haiku von 69 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
gelbe Tonne
zwei Nachbarinnen sortieren
Gerüchte
Eleonore Nickolay
In der Kreativitätsforschung gibt es den Begriff der Bisoziation. Dabei werden Begriffe, Bilder oder Vorstellungen aus unterschiedlichen Bezugsrahmen miteinander verknüpft. So kann ein „zündender“, d.h. neuer und oft überraschender Gedanke entstehen. Daran wurde ich bei diesem Haiku erinnert.
Ausgangspunkt ist die Mülltrennung. Die mancherorts gebräuchliche „gelbe Tonne“ ist fast zum Symbol dafür geworden. Dieser Begriff (Bezugsrahmen) bildet den Auftakt in der ersten Zeile. Er wird seine eigenen Assoziationen hervorrufen. Die zweite Zeile verstärkt das Thema Mülltrennung, erweitert durch die quasi zusammen oder zeitgleich durchgeführte Sortier-Aktion zweier Nachbarinnen.
Auch darin liegt noch nichts Ungewöhnliches. Allerdings schließt sich an das zum Bild passende letzte Wort der zweiten Zeile „sortieren“ ein unerwartetes Wort in der dritten Zeile an. Es bringt einen anderen Bezugsrahmen ins Spiel (wie kreatives Handeln in der Bisoziation) und schafft damit Neues. Nun geht es nicht mehr um Müll, sondern um Gerüchte, nicht mehr um den realen Vorgang der Trennung des Abfalls, sondern „über der Tonne“ die Sortierung dessen, was die beiden Frauen an Gerüchten gehört haben, auf Wahrheit und Stimmigkeit, womöglich auch auf Neuigkeitswert und „Luststeigerung“ …
Die Verknüpfung von Müll-Trennung und Gerüchte-Sortierung lässt einerseits aparte Schlussfolgerungen zu; andererseits ist das Ganze ein herrlich-heiteres Bild für das weidlich bekannte nachbarschaftliche Klatschen und Tratschen. Ein alltägliches, lustiges und, wie ich finde, fast lehrbuchmäßig kreatives Haiku.