Top-Extra Oktober 2021

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

gelbe Tonne
zwei Nachbarinnen sortieren
Gerüchte

Eleonore Nickolay

 

Pantomime
ein Taubstummer
antwortet

Friedrich Winzer

 

Opa und Enkel
bringen den Kürbis
zum Grinsen

Rosemarie Schuldes

 

Wurststand
hinter mir drängelt
ein Hund

Stefanie Bucifal

 

Trennung
jetzt umarmt sie
Bäume

Friedrich Winzer

 

fremder Spaziergänger
heute
grüße ich ihn

Stefanie Bucifal

 

nach dem Regenguss
das Aufatmen der Bäume
einatmen

Petra Fischer

 

ihr erster Geburtstag
im Heim
Bitterschokoladenkuchen

Ruth Karoline Mieger

 

Den erschöpften
Pizzaboten fragen
Schon gegessen

Iris Ziesemer

 

aufgewühlt
ich lese aus den Falten
meiner Bettdecke

Birgit Heid

 

Im September 2021 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 353 Haiku von 69 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

gelbe Tonne
zwei Nachbarinnen sortieren
Gerüchte

Eleonore Nickolay

 

In der Kreativitätsforschung gibt es den Begriff der Bisoziation. Dabei werden Begriffe, Bilder oder Vorstellungen aus unterschiedlichen Bezugsrahmen miteinander verknüpft. So kann ein „zündender“, d.h. neuer und oft überraschender Gedanke entstehen. Daran wurde ich bei diesem Haiku erinnert.

Ausgangspunkt ist die Mülltrennung. Die mancherorts gebräuchliche „gelbe Tonne“ ist fast zum Symbol dafür geworden. Dieser Begriff (Bezugsrahmen) bildet den Auftakt in der ersten Zeile. Er wird seine eigenen Assoziationen hervorrufen. Die zweite Zeile verstärkt das Thema Mülltrennung, erweitert durch die quasi zusammen oder zeitgleich durchgeführte Sortier-Aktion zweier Nachbarinnen.

Auch darin liegt noch nichts Ungewöhnliches. Allerdings schließt sich an das zum Bild passende letzte Wort der zweiten Zeile „sortieren“ ein unerwartetes Wort in der dritten Zeile an. Es bringt einen anderen Bezugsrahmen ins Spiel (wie kreatives Handeln in der Bisoziation) und schafft damit Neues. Nun geht es nicht mehr um Müll, sondern um Gerüchte, nicht mehr um den realen Vorgang der Trennung des Abfalls, sondern „über der Tonne“ die Sortierung dessen, was die beiden Frauen an Gerüchten gehört haben, auf Wahrheit und Stimmigkeit, womöglich auch auf Neuigkeitswert und „Luststeigerung“ …

Die Verknüpfung von Müll-Trennung und Gerüchte-Sortierung lässt einerseits aparte Schlussfolgerungen zu; andererseits ist das Ganze ein herrlich-heiteres Bild für das weidlich bekannte nachbarschaftliche Klatschen und Tratschen. Ein alltägliches, lustiges und, wie ich finde, fast lehrbuchmäßig kreatives Haiku.