Top-Extra November 2021

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

Anschlusszug
wie anders hätte mein Leben
verlaufen können

Birgit Heid

 

Vivaldi
eine Möwe fliegt
aus der Zeit

Petra Fischer

 

stromausfall
in der stadt – ich entdecke
den himmel

Michaela Kiock

 

Silbermond
als schaue er nur mich an

Anke Holtz

 

Neujahrstag
das weiße Stillleben
vom letzten Jahr

Maya Daneva

 

ein Regenbogen
ich suche die Farbe
jenseits von Violett

Hubertus Thum

 

earphones was die nonne wohl hört

Bernadette Duncan

 

tosender Berufsverkehr
Glockengeläut
aus meinem Jackett

Dyrk-Olaf Schreiber

 

zu Besuch –
der aufgetaute Kuchen
ist Schweinefilet

Taiki Haijin

 

Sonntag
bei der alten Frau klingelt’ s
nur an Halloween

Eleonore Nickolay

 

Im Oktober 2021 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 406 Haiku von 85 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

Anschlusszug
wie anders hätte mein Leben
verlaufen können

Birgit Heid

Ein Haiku, das aus dem einen Wort Anschlusszug und einer anschließenden Reflexion über den Lauf des Lebens besteht: „wie anders hätte mein Leben verlaufen können“. Geht das?

Nichts wird hier verraten oder offenbart, was da genau passierte. Lediglich im Wortteil „Anschluss“ von „Anschlusszug“ könnte ein Hinweis liegen zur Ent-Schlüsselung des rätselhaften Haiku. So bleibt der Phantasie aller Spielraum, sich aus den Fragmenten eine Geschichte zusammenzureimen. Versuchen wir eine Version:

Der Autor/die Autorin hat auf einer Reise den Anschlusszug verpasst. Dann ist etwas passiert: eine Begegnung, ein „Anschluss“ anderer Art womöglich, der das weitere Leben bestimmt hat. Und nun fragt sich der/die Betroffene, wie anders das Leben doch hätte laufen können – wenn er den Zug bekommen hätte. Alles ist offen.

Welche Tonalität, welche Stimmung aber hat die Reflexion über den verpassten Anschlusszug und seine Auswirkung auf das eigene Leben? Ist es Bedauern, Trauer, Enttäuschung darüber, was dadurch geschah?
Oder im Gegenteil Freude, Dankbarkeit, Zustimmung über das Glück?
Oder ist es die Nachdenklichkeit über den Zufall oder das Schicksal?

Es gibt keine Antwort, nur einen Anstoß, über Lebenslaufbestimmungen (Wahl-Schicksal?) nachzudenken. Ein wenig konkretes, eher reflexions-lastiges, aber auch offenes Haiku. Basst scho.

 

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