und Haiku-Besprechung
von René Possél
Gipfelkreuz
ein Adler unterfliegt
die Stille
Friedrich Winzer
Ehestreit
sie flüchtet
ins Märchenbuch
Marita Bagdahn
Flug über den See
langsam löst sich der Schwan
von seinem Schatten
Eleonore Nickolay
im Friedwald
mein Enkel erklärt
Opa ist bald in den Knospen
Ruth Karoline Mieger
Intensivstation
das Gewicht des Zettelchens
am Teebeutel
Bernadette Duncan
Stammtisch
seit zwanzig Jahren halbiert sie
die Sätze
Birgit Heid
totenstille
meine gedanken kreisen
um diesen ton
Robert Patrick Martin
ihr neues Tattoo
nur Busenfreunde kriegen
es zu sehen
Pitt Büerken
Käsetheke
ich nehme ein Stück
Bergwiese
Peter Rohrbeck
Schokonikolaus
Die guten Vorsätze
gegessen
Deborah Karl-Brandt
Im Januar 2022 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 390 Haiku von 70 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
Gipfelkreuz
ein Adler unterfliegt
die Stille
Friedrich Winzer
Ein seltsam anmutendes Haiku! Vielleicht ist der Reiz, es zu verstehen und zu interpretieren, besonders groß …
Die Ausgangssituation ist mit „Gipfelkreuz“ in der ersten Zeile genannt: Der Augenblick auf einem Berggipfel nach dem Aufstieg.
Man könnte nach der zweiten Zeile „ein Adler unterfliegt“ denken, dass eine Aussage folgt wie: das Kreuz oder den Gipfel oder meine Position … Stattdessen steht in der dritten Zeile der Ausdruck „die Stille“. Also: „ein Adler unterfliegt die Stille“. Das ist zunächst rätselhaft bzw. sprachlich und sachlich ungewöhnlich, um nicht zu sagen: surreal.
Da wird ein räumlicher Vorgang, nämlich das Fliegen des Adlers, mit einem akustischen Phänomen, der Stille auf dem Gipfel eines Berges, zusammengebracht. Das Ergebnis ist eine rätselhafte, irgendwie poetische Aussage, deren Gehalt man kaum formulieren kann …
Ein Versuch:
Stille ist vielleicht nicht nur die Abwesenheit von Klang und Geräusch, sondern auch von Bewegung. Insofern ist der (zwar auch stille, aber eben bewegte) Flug des Adlers eine Kategorie der Stille „unterhalb“ der noch größeren Stille und Bewegungslosigkeit eines Berggipfels.
Die Stille des Gipfels wird im Vergleich zur Stille des fliegenden Adlers gesteigert dargestellt. Der Ausdruck „Unterfliegen der Stille“ ist dabei eine Kombination zweier Sphären. In der Bisoziation verschiedener Bezugssysteme kreiert das gelungene Haiku so ein poetisches Bild.