Top-Extra Mai 2022

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

Ostermorgen
vor unserem Haus spielen
Irynas Kinder

Marie-Luise Schulze Frenking

 

Blütenschnee
eine andere Welt
ist möglich …

Eleonore Nickolay

 

familienporträt
die haltbarkeit
von schmerz

Michaela Kiock

 

der lenz ist da
in meinem kopf
erste wortschößlinge

Robert Patrick Martin

 

Die Pfütze ist
heute Nacht zu eng
für den Mond

Dieter Gebell

 

sein notizheft
gefüllt mit gedichten
und schokoladenflecken

Michaela Kiock

 

Provinzbahnhof
Züge
die nicht halten

Stefanie Bucifal

 

Papierboot
das Gedicht das
entkam

Adrian Bouter

 

Geige üben
so anders
dein Gesicht

Peter Rohrbeck

 

Im April 2022 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 438 Haiku von 84 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus (ein Text musste später herausgenommen werden). Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

Ostermorgen
vor unserem Haus spielen
Irynas Kinder

Marie-Luise Schulze Frenking

Ein Haiku zum Krieg in der Ukraine zu schreiben, ist sehr schwierig. Wie kann die Beschreibung schrecklichster Bilder, die Empörung über das Morden unzähliger Menschen in siebzehn Silben Ausdruck finden? Und mehr noch: Wie kann die Sehnsucht nach Frieden und der Wunsch nach Hilfe im Zusammenhang mit diesem Krieg zur Sprache kommen?

Dieses Haiku geht einen diskreten und angemessen indirekten Weg. Es setzt ein mit dem Begriff „Ostermorgen“. In unserem Kulturkreis, der (noch) christlich geprägt ist, dürfte das Wort bei vielen daher noch an die christliche Hoffnung auf Überwindung des Todes erinnern.

Nach der Zäsur geht es in der zweiten und dritten Zeile weiter mit der zunächst unspektakulären Beschreibung spielender Kinder vor dem Haus. Erst die überraschende Erklärung „Irynas Kinder“ schlüsselt das Ganze im Nachhinein auf und macht aus der harmlosen Aussage eine tiefere. „Iryna“ dürfte ein ukrainischer Frauenname sein. Dass es ihre Kinder sind, die am Ostermorgen vor „unserem Haus“ spielen, lässt einiges erschließen:

Da haben Menschen in unserem Land eine ukrainischen Flüchtlingsfamilie aufgenommen und ihr im eigenen Haus Zuflucht gewährt. Und hier können die Kinder der Flüchtlingsfamilie ungestört das tun, was Kinder eben tun und tun sollen, aber im Krieg am wenigsten tun können – nämlich: spielen.

Es ist ein schlichtes Bild der Solidarität und Hilfe ebenso wie des Friedens, der Hoffnung auf Frieden vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine. So kann man ein Haiku zu diesem Krieg schreiben. Und es macht Hoffnung.

 

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