Top-Extra Juli 2022

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

Liebesbriefe der Eltern
diesen Ton
kennt sie nicht

Martin Berner

 

Abends im Winter
mit schlechten Nachrichten
den Kamin anheizen.

Moritz Wulf Lange

 

Schach
der Eröffnungszug
an der Zigarre

Friedrich Winzer

 

Suppenküche
das Schlürfen
in der Stille

Christa Beau

 

verlassenes Nest –
die alte Buche
fällt wieder ins Schweigen

Eva Limbach

 

der Bergbach
bezieht mich sofort ein
in seine Geschichte

Bernadette Duncan

 

Uropas Kriegstagebuch
sie begräbt es
ungelesen

Martin Berner

 

Entrümpelung
ein letzter Schlag
der Standuhr

Friedrich Winzer

 

Ein Buddha
Am Fenster,
rauchend

Stefanie Wachowitz

 

Im Juni 2022 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 423 Haiku von 73 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Ein Text davon musste später herausgenommen werden, da er bereits im letzten Monat eingereicht und veröffentlicht worden war. Die ausgewählten Texte stehen in einer von René Possél gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

Liebesbriefe der Eltern
diesen Ton
kennt sie nicht

Martin Berner

 

Statt Einhaltung der klassischen Silbenzahl in drei Zeilen setzt dieses gelungene Haiku gleich in der ersten Zeile das Thema in sieben Silben wie mit einem Paukenschlag:

Da hat eine Tochter die alten Liebesbriefe ihrer Eltern gelesen – wahrscheinlich posthum. Ob der Ausdruck „der Eltern“ statt „ihrer“ bzw. die Vermeidung, das Ganze in der ersten Person zu sagen, ein Versuch ist, Distanz zu dem Vorgang zu gewinnen?

Was die Tochter liest, ist überraschend, irritierend, neu für sie – und zwar offenbar nicht vom Inhalt, sondern von seinem Ton her. Und so drückt die letzte Zeile aus, was die erste vielleicht mit der Wahl des Artikels statt des Personalpronomens andeutet:

Diese Eltern kennt sie nicht! Wie waren die Eltern, die sie kannte? Wie aber der neue Ton ist, was da ungewöhnlich ist am Tonfall der Eltern für die Tochter, wird hier im Einzelnen nicht genannt. Vermutlich können Kinder sich ihre Eltern eben nur in ihrer Rolle vorstellen und nicht als zärtliche oder leidenschaftlich Liebende …

Im Satz „diesen Ton kennt sie nicht“ schwingt vieles mit: Neben der Überraschung vielleicht auch das Bedauern, diese Seite der Eltern nie kennengelernt zu haben …

„… wenn ein Mensch stirbt, dann stirbt mit ihm sein erster Schnee und sein erster Kuss und sein erster Kampf … all das nimmt er mit sich.

Was wissen wir über die Freunde, die Brüder, was wissen wir schon von unseren Liebsten?“

(J. Jewtuschenko)

 

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