und Haiku-Besprechung
von René Possél
Friedhofsbank
die Ruhe
vor der Ruhe
Birgit Lockheimer
all mein Zögern
auf der Leinwand
übermalt
Anke Holtz
Den Garten gießen
bei jedem neuen Grün
ein anderer Ton
Peter Rohrbeck
Die Nachbarin mit Maske
das tiefe Blau
ihrer Augen
Elisabeth Weber-Strobel
Kirschen
meine ersten
Ohrringe
Kamil Plich
nach der Sommernacht
im Gras vom Stadtpark
blühen die Pizzakartons
Sylvia Hartmann
endlich
freigetestet
atmen
Marie-Luise Schulze Frenking
Mein Geschenk
für mich
die Zehen berührt
Dieter Gebell
flackernder Himmel –
nach jedem Blitz erblindet
die Nacht
Angelica Seithe
Hauptgewinn
die Laborwerte in Händen
lächelt mein Arzt
Dieter Gebell
Im Juli 2022 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 459 Haiku von 82 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von René Possél gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
Friedhofsbank
die Ruhe
vor der Ruhe
Birgit Lockheimer
Ein wahrlich kurzes, aber länger wirkendes, denk-anstößiges Haiku! Das erste Wort macht das „setting“ deutlich: Eine Bank auf dem Friedhof. Sie lädt nicht nur zum Aus-Ruhen ein, sonder auch zum Nach-Denken.
Das Wort „die Ruhe“ in der zweiten Zeile ist daher ein naheliegendes Stichwort. Wer sich auf eine Bank setzt, möchte sich, wenigstens für einen Augenblick, ausruhen. Was aber bedeutet erholsame Ruhe an einem Ort, an dem in zahllosen Inschriften auf Grabsteinen steht: Ruhe in Frieden?
Das Haiku gibt in der dritten Zeile, ausgehend von der Ruhe, den Hinweis, dass die Ruhe in der Zeit, das Ausruhen im Leben, ein Vorgeschmack sein kann auf die endgültige so genannte ewige Ruhe, das „Ruhe finden“ nach dem Leben.
Welche Gefühle, welche Gedanken bringt dieser Hinweis im Leser des Haiku hervor? Erzeugt er Angst vor dem Ende des Lebens, Erleichterung, dass der „struggle of life“ zu Ende geht? Ist da der Widerstand eines ruhelosen Leibes und Lebens oder vielleicht die Sehnsucht nach einem endgültigen Frieden, nach der Ruhe des Angekommen-seins?
Die Mehrdeutigkeit des Wortes „Ruhe“, die Amplifikation durch den Ort des Friedhofs, der letzten „Ruhe-Stätte“ von Menschen, die „Unruhe“, die das Haiku in die Gedanken und Gefühle bringen kann. („Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir …“ Augustinus, Confessiones 1,1): All das macht die Besonderheit und Weite des Kürzest-Gedichtes=Haiku aus.