und Haiku-Besprechung
von René Possél
parkeingang
zwischen verbotsschildern
ein amsellied
Tobias Tiefensee
abendstunde
ein alter mann erzählt
mein leben
Martin Speier
Beerdigung die Pappel in einem Krähenmantel
Adrian Bouter
Kirmes
das alte Kettenkarussell dreht uns
in ferne Zeiten
Ramona Linke
Ein Graureiher
gibt dem Morgennebel
eine Stimme
Peter Rohrbeck
im fluss
das stille geräusch
der rollenden steine
Ulrike Titelbach
die hecke wird kahl
und die stimme des nachbarn
bekommt ein gesicht
Ludmilla Pettke
im hospiz
über den flur huscht
eine kinderstimme
Michaela Kiock
dem fließenden Bach
nachsinnen
was wird werden
Angela Schmitt
Countdown
Großvater verkauft
seine Harley
Friedrich Winzer
Im September 2022 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 458 Haiku von 71 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
parkeingang
zwischen verbotsschildern
ein amsellied
Tobias Tiefensee
Dies Haiku lebt unter anderem von einer aparten logischen Unstimmigkeit … Aber der Reihe nach: Es setzt ein mit dem Wort „parkeingang“. Jeder hat sicher seine eigenen Vorstellungen, Assoziationen bei diesem Wort. Gemeinsam dürfte sein, dass der Eingang in einen Park eher an das Spazieren gehen und flanieren, Luft schöpfen und entspannen vom Tag denken lässt, an Freizeit.
Ein deutscher Park (!) kommt nun, wie so viele öffentliche Räume, offenbar nicht ohne Verbotsschilder aus. Und was kann da nicht alles verboten werden: Z.B. das Radfahren oder das Betreten des Rasens, das Grillen oder Picknicken, Lärm durch Musikgeräte und was es sonst noch Verbietbares und Schönes gibt …
Was ist nun zwischen all den Verbotsschildern, wie die Formulierung der zweiten Zeile uns fragen lassen könnte? Die Antwort in der dritten Zeile ist gewissermaßen eine poetische Aufsprengung der Erwartungshaltung. Das, was „zwischen“ den Verbotsschildern (zu hören!) ist, ist das Lied einer Amsel. Das ist überraschend – und von eben jener aparten logischen Unstimmigkeit, die ich zu Anfang erwähnte.
Denn das Lied der Amsel ist jederzeit und (fast) überall frei zu hören; der Haiku-Dichter/die Haiku-Dichterin verortet es aber hier und bringt es in einen Zusammenhang mit den Verbotsschildern am Park-Eingang. Was bedeutet das?
Darf man daraus schließen, dass der Schreiber/die Schreiberin des Haiku dem Gesang eine ähnlich revolutionäre, freiheitsliebende Sehnsucht zuschreibt wie einst der Dichter und die Sänger des Liedes „Die Gedanken sind frei!“?
Die überraschende Pointe eines Amselliedes zwischen Verbotsschildern – das ist, über die logische Unstimmigkeit des Haiku hinaus, die poetisch-politische Wahrheit: Gedanken und Gesänge von Mensch und Tier sind frei.