und Haiku-Besprechung
von René Possél
im Raum
die Stille ungezählter
Gesänge
Angela Schmitt
Orgeltöne
ahnen woher das Licht kommt
Anke Holtz
Requiem
der fahle Ton
der Tuba
Wolfgang Hölz
Zeitensprung
entdecke ihr Lächeln
in der Antikensammlung
Hubertus Thum
Augenblick
sie öffnet langsam
ihre Bluse
Friedrich Winzer
Anglerglück
zwischen den Händen
wächst der Fisch
Wolfgang Hölz
der alte Trinker geht
von Geschichte
zu Geschichte
Ralf Bröker
im Dezember
eine Lawine verpackt
das Wegkreuz
Dyrk-Olaf Schreiber
Michael …
ich lösche
den Gesprächsverlauf
Eleonore Nickolay
Allerheiligen
Das Gesteck zu schön
für das Grab
Deborah Karl-Brandt
Im November 2022 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 423 Haiku von 77 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
im Raum
die Stille ungezählter
Gesänge
Angela Schmitt
Nichts wird in dem Haiku gesagt, welches jener Raum ist, in dem ungezählte Gesänge die Stille imprägniert haben …
„im Raum“ – ein nicht näher bestimmter Ort, mit dem das Haiku einsetzt. Ebenso unbestimmt ist das Wort, mit dem die zweite Zeile beginnt: „die Stille“.
Stille in einem leeren Raum, in den man getreten ist. Das ist nicht überraschend oder ungewöhnlich. Das Neue setzt ein mit dem fünften Wort, dem letzten der zweiten Zeile und dem folgenden einzigen der dritten: „ungezählter – Gesänge“.
Da ist ein Raum, in dem ungezählte Male gesungen wurde, der jetzt leer und damit still ist. Die Vermutungen und Fragen zum Ort könnten in verschiedene Richtungen gehen – z.B.:
– Ist es ein Kirchenraum, in dem eben „ungezählte Male“ religiöse Lieder oder Chorgesang gesungen wurden?
– Ist es der Raum in einem Konservatorium? Auch da wird, im Übungsraum für SängerInnen, zahllos oft gesungen?
In beiden Arten von Raum scheint das Singen noch in der Stille präsent. Auf welche Weise?
Ist es die Phantasie des Besuchers, der den Raum betritt und mit dem Wissen um den Zweck des Raumes die Stille gleichsam „gefüllt fühlt“, qualifiziert? Oder gibt es eine besondere Stille, die entsteht, wo Musik, wo Gesang war?
Können Musik und Gesang noch „in der Luft liegen“ und uns berühren?
Mir scheint, dieses Haiku geht über das rein Haiku-hafte hinaus.
Es drückt im Angedeuteten aus, was uns übersteigt.
„The music in a sense plays us. We are played by it.“
(George Steiner)