und Haiku-Besprechung
von René Possél
die Bücher
er liest sie jetzt mit
ihren Augen
Claus Hansson
So still die Nacht
am Morgen
Schnee
Lidwina Bilgerig
Segelschifftapete
in „Enkelhöhe“
alle Boote bemannt
Wolfgang Hölz
Vorfrühling
der Duft
von frischem Mist
Wolfgang Hölz
drei kleine Könige
warten
auf den Stern
Wolfgang Hölz
Trauerfeier
eine junge Frau lächelt
von einem alten Foto
Pitt Büerken
zen-garten
die steinerne schildkröte
schwimmt gegen den strom
Michaela Kiock
sternenkind –
im granit der name
den er nie trug
Alexander Groth
Terminal 3
ich wappne mich mit
deinem Lachen
Nicola Kössler
Nacht
eine Lok pfeift
auf die Stille
Friedrich Winzer
Im Januar 2023 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 538 Kurzgedichte von 84 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
die Bücher
er liest sie jetzt mit
ihren Augen
Claus Hansson
Bei diesem Haiku gibt es offenbar eine Vorgeschichte. Sie wird nicht genannt. Dadurch wirft das Haiku viele Fragen auf, um nicht zu sagen: es wird rätselhaft! Bestenfalls erfordert es das Erfinden einer Geschichte …
Da liest einer „die Bücher“ – „jetzt“ – „mit ihren Augen“. (Warum das „mit“ in der zweiten, nicht dritten Zeile?).
Um welche Bücher geht es? Sind es ihre, die sie hinterlassen hat, sind es seine eigenen Bücher, sind es womöglich Bücher, die er/sie selber schrieb? Was bedeutet „jetzt“? Ist es die Zeit nach der Trennung, gar nach dem Tod der Freundin oder Partnerin oder Ehefrau? Was heißt „mit ihren Augen lesen“? Wodurch hat er ihre Sichtweise kennengelernt, wodurch ist er veranlasst, „die Bücher“ (ihre, seine?) neu zu lesen? Was heißt „mit ihren Augen“? Welchen besonderen Blick, welches Verstehen hatte sie, das er sucht?
Kann es sein, dass ein Haiku zu wenig Informationen bietet, damit unnötig ver-rätselt wird und die Interpretation also beliebig? Mich hat es jedenfalls, nach anfänglicher Anziehung, durch zu viele Fragen und zu wenig Ansätze nicht zu einer Geschichte herausfordern können. Es bleibt mir rätselhaft.