Top-Extra Februar 2023

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

die Bücher
er liest sie jetzt mit
ihren Augen

Claus Hansson

 

So still die Nacht
am Morgen
Schnee

Lidwina Bilgerig

 

Segelschifftapete
in „Enkelhöhe“
alle Boote bemannt

Wolfgang Hölz

 

Vorfrühling
der Duft
von frischem Mist

Wolfgang Hölz

 

drei kleine Könige
warten
auf den Stern

Wolfgang Hölz

 

Trauerfeier
eine junge Frau lächelt
von einem alten Foto

Pitt Büerken

 

zen-garten
die steinerne schildkröte
schwimmt gegen den strom

Michaela Kiock

 

sternenkind –
im granit der name
den er nie trug

Alexander Groth

 

Terminal 3
ich wappne mich mit
deinem Lachen

Nicola Kössler

 

Nacht
eine Lok pfeift
auf die Stille

Friedrich Winzer

 

Im Januar 2023 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 538 Kurzgedichte von 84 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

die Bücher
er liest sie jetzt mit
ihren Augen

Claus Hansson

 

Bei diesem Haiku gibt es offenbar eine Vorgeschichte. Sie wird nicht genannt. Dadurch wirft das Haiku viele Fragen auf, um nicht zu sagen: es wird rätselhaft! Bestenfalls erfordert es das Erfinden einer Geschichte …

Da liest einer „die Bücher“ – „jetzt“ – „mit ihren Augen“. (Warum das „mit“ in der zweiten, nicht dritten Zeile?).

Um welche Bücher geht es? Sind es ihre, die sie hinterlassen hat, sind es seine eigenen Bücher, sind es womöglich Bücher, die er/sie selber schrieb? Was bedeutet „jetzt“? Ist es die Zeit nach der Trennung, gar nach dem Tod der Freundin oder Partnerin oder Ehefrau? Was heißt „mit ihren Augen lesen“? Wodurch hat er ihre Sichtweise kennengelernt, wodurch ist er veranlasst, „die Bücher“ (ihre, seine?) neu zu lesen? Was heißt „mit ihren Augen“? Welchen besonderen Blick, welches Verstehen hatte sie, das er sucht?

Kann es sein, dass ein Haiku zu wenig Informationen bietet, damit unnötig ver-rätselt wird und die Interpretation also beliebig? Mich hat es jedenfalls, nach anfänglicher Anziehung, durch zu viele Fragen und zu wenig Ansätze nicht zu einer Geschichte herausfordern können. Es bleibt mir rätselhaft.

 

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