Top-Extra April 2023

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

Frostnacht –
die Morgensonne frisst
die Wiesen grün

Angelica Seithe

 

blaue Papiertonne
die vielen ungelesenen Seiten

Hildegard Dohrendorf

 

nach der Beerdigung –
der Enkelsohn winkt
den Wolken zu

Alexander Groth

 

nach dem entzug –
diese fremde zärtlichkeit
meiner eltern

Alexander Groth

 

Selbstgespräche
ein Kuckuck
mischt sich ein

Wolfgang Hölz

 

nachts am alten teich
ein frosch springt
auf den mond

Georg C. Sindermann

 

Unruhige Nacht
der Geruch von Eukalyptus
im Kinderhaar

Dieter Gebell

 

morgentau
ein schmetterling entschlüpft
der stille

Michaela Kiock

 

Regenbogen
auf ihrem T-Shirt
in Bewegung

Andrea Nass

 

Duftkerze
seit ich dich kenne
riecht Vanille nach dir

Mira Speier

 

Im März 2023 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 438 Kurzgedichte von 85 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

Frostnacht –
die Morgensonne frisst
die Wiesen grün

Angelica Seithe

 

Manchmal macht ein ungewöhnliches Wort oder Bild den Reiz eines Haiku aus. Dies hier beginnt mit dem Wort „Frostnacht“. Es erzeugt eine Vorstellung, die Voraussetzung ist für die nächsten Zeilen. Frost hat über Nacht eine weiße Raureif-Decke auf die grünen Wiesen gelegt.

Statt der üblichen Formulierung von der Sonne, die den Reif wegtaut und die grünen Wiesen freilegt, folgt nun ein anderer Ausdruck für diesen Vorgang, der dem Haiku seinen besonderen Charme gibt.

Der Ausdruck „die Morgensonne frisst“ bietet erst eine hübsche Alliteration: „frisst und Frostnacht“. Aber er sagt noch mehr. Normalerweise wird das Grün der Wiesen von den Kühen gefressen. Übrig bleibt vielleicht ein blasseres Grün oder ein beginnendes Braun.

Das gewohnte Bild im Kopf wird mehrfach umgedreht: Einmal ist es die Morgensonne, die den Reif auf den Wiesen „frisst“ vulgo: schmilzt. Zum anderen ist Ergebnis des „Fressens“: die grüne Wiese.

Jedem ist klar: die Morgensonne legt im Vorgang des Schmelzens das Grün der Wiese frei. Statt „freilegen“ heißt es hier „grünfressen“! Die ungewöhnliche Formulierung überrascht und lässt aufmerken. Und sie ist tatsächlich verständlich und regt zum Schmunzeln an …

Manchmal macht eben ein einziges Wort oder Bild den Reiz des Haiku aus.

 

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