und Haiku-Besprechung
von René Possél
so still
das karomuster
seines schlafanzugs
Tihomir Popović
auf nachtblauem grund
die stillen skizzen
des frostes
Birgit Schaldach-Helmlechner
herbstlaub
der zettel den ich
von ihr fand
Tobias Krissel
Raureif
versilbert das Grab
es hätte ihr gefallen
Wolfgang Hölz
Schärengarten
der Mond schlägt eine Brücke
zur Nachbarinsel
Gérard Krebs
was ich mal werden möchte
fragt der Enkel
Frühlingsregen
Bernadette Duncan
wintergrau
irgendwann werden wir
Freunde sein
Eva Limbach
Winterwald –
einzig das leise Geräusch
der eigenen Schritte.
Reinhard Dellbrügge
Abschiedswinken
aus dem Zug
dieses nicht endende Gleis
Adrian Bouter
Familiengewölbe
Mama wird
ein Name
Maya Daneva
Im Januar 2024 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 425 Kurzgedichte von 75 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
so still
das karomuster
seines schlafanzugs
Tihomir Popović
Ein Haiku, das nur wenige Andeutungen enthält und daher in der Interpretation un-eindeutig, offen bleibt.
Ausgangssituation scheint zu sein, dass jemand am Bett eines Mannes steht („seines schlafanzugs“!). Er/sie empfindet, dass es/er? „so still“ ist. Diese Stille erscheint außergewöhnlich und kann deshalb ein Hinweis sein. Vielleicht ist bei dem Mann der Tod eingetreten. Dann meint „so still“ = „toten-still“ und der oder die Angehörige steht am Bett eines Toten.
Nach der ersten Zeile kann man die im Haiku übliche Zäsur vermuten. Das hier gebrauchte „so still“ bezieht sich vermutlich nicht auf das Karomuster. Oder aber die Beschreibung des Musters (=still) wäre synästhetisch und eine rhetorische Figur mit verschobenem Bezug („Enallage“)?!
Zweite und dritte Zeile richten den Blick nun auf „das karomuster seines schlafanzugs“. Das scheint mir hier eine Art Übersprungs-Verhalten auszudrücken. Weil man für diese Situation, nämlich den eigenartigen Zustand der Stille als Ausdruck der Autorität des Todes, kein übliches Verhalten parat hat, hält sich das Auge übersprunghaft erstmal fest am „karomuster seines schlafanzugs“. Das Muster selber ist, um es klar zu sagen, völlig belanglos.
Aber alles könnte auch ganz anders sein. Ganz eindeutig ist hier nichts. Vielleicht schläft der Mann. Oder er ist abwesend – und da liegt nur sein Schlafanzug. Dann wäre das „so“ der Stille die akustische Wahrnehmung seines Fehlens. Und die als Übersprungs-Verhalten qualifizierte Reaktion wäre nur ein Reflex darauf. Aber es gäbe keine dramatische Situation. Tot oder nicht tot, das ist hier die Frage. Sie bleibt offen.