und Haiku-Besprechung
von René Possél
feldpost –
sie fragt ihn nach namen
für ein mädchen
Alexander Groth
an der bettkante
sein aufgeschlagenes buch
kann nicht einschlafen
Tihomir Popović
Flohmarkt
eine Kuckucksuhr
röchelt
Friedrich Winzer
Nach dem Regen
der nassen Hauswand
beim Trocknen zusehen
Marita Bagdahn
Sauna
meine Nachbarin
übersieht mich
Friedrich Winzer
Frühling
ein Gärtner stellt
die Blumenuhr
Friedrich Winzer
Unser Turmfalke
schlägt
unseren Buntspecht.
Christiane Freimann
Herzklopfen
eine Stimme ruft mich
im Traum
Marie-Luise Schulze Frenking
im Schatten der Weide
wird das Wasser
schwarz
Angelica Seithe
die eiche die von mir sprechen könnte – abgeholzt
Helga Stania
Im März 2024 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 414 Kurzgedichte von 77 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
feldpost –
sie fragt ihn nach namen
für ein mädchen
Alexander Groth
Das Haiku erinnert an die „six-word-stories“. Das sind Stories, die in wenigen (sechs!) Worten eine ganze Geschichte erzählen. Erfinder sei der amerik. Schriftsteller Ernest Hemingway gewesen. Dieses Haiku enthält neun Worte. Auch dahinter verbirgt sich eine Geschichte, die man sich in der Fantasie zusammenreimen kann.
Das erste Wort „feldpost“ ist ein Hinweis auf Vergangenheit, Krieg und Kommunikation. Feldpost gab es z.B. in den zwei Weltkriegen, als die Beförderung von Schriftstücken noch eine gewisse Rolle spielte. Da wurden (neben amtlichen) private Schriftstücke von und an Soldaten an der Front transportiert. Hier hat jemand einen solchen Feldpostbrief gefunden und gelesen. Er stammt von der Braut eines Soldaten „im Feld“.
Die Zeilen zwei und drei verraten indirekt, was sich zwischen der Briefschreiberin und dem Empfänger vor seinem Einzug an die Front abgespielt haben muss. Eine Liebesgeschichte wird angedeutet und auch, dass sie nicht ohne Folgen blieb. Die Frau fragt „ihn“, welchen Namen er „einem Mädchen“ geben würde. Sie will den Vater des Kindes bei der Namengebung beteiligen.
Eigenart, Berührungskraft im Nachhall bekommt das Haiku durch zweierlei:
1. Die gewöhnlichen Ereignisse des Lebens (Liebe – Ehe – Elternschaft) werden durch die Kriegsumstände zu etwas Un-selbstverständlichem, fast Tragischen (Trennung der Eltern, Geburt und Leben ohne Vater). Wer weiß, ob sich das nicht auch heute noch ereignet …
2. Die „story“ ist längst Vergangenheit. Es bleibt ein Feldpostbrief. Wer weiß, ob von den Beteiligten noch jemand lebt (das Mädchen)?!
„war time lies“ hieß ein Buch von Louis Begley, Ende der 90-er Jahre in Deutschland erschienen unter dem Titel „Lügen in Zeiten des Krieges“. „Geburt in Zeiten des Krieges“ – „war time birth“ könnte man das Haiku nennen: eine anrührende „nine-word-story“.