und Haiku-Besprechung
von René Possél
neue Möbel
meine Augen suchen
die alten Kratzer
Sylvia Hartmann
Hospiz
die Uhr
ohne Zeiger
Wolfgang Hölz
Strand
ich finde Bernstein
in ihren Augen
Friedrich Winzer
Wohnungsauflösung
der Teddy
schaut zu Boden
Christoph Junghölter
Die neue Kollegin
schenkt Sekt ein.
Kribbeln
Christoph Junghölter
er träumt
endlich frei zu sein
von Albträumen
Pitt Büerken
weitergetragen
das Lächeln
im Vorbeigehen
Ingrid Meinerts
auf dem photo
großvaters schatten
all die jahre
Martin Speier
das Dorf
wie friedlich
von hier oben
Wolfgang Hölz
im schlosspark
sich ausruhen zwischen
kanonen
Martin Speier
Im April 2024 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 389 Kurzgedichte von 71 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
neue Möbel
meine Augen suchen
die alten Kratzer
Sylvia Hartmann
Dies ist ein nachdenklich stimmendes Haiku – vielleicht über die Macht der Gewohnheit oder die Sehnsucht bei Neuem nach dem Alten oder gar die Entdeckung, dass Kratzer erst die kostbare Patina unseres Lebens bilden …
Dass man irgendwann neue Möbel kauft, gehört zum Leben. Sei es, dass die alten abgewohnt waren – sei es, dass wir nach einer neuen Umgebung in unserem Alltag suchen. Auch neue Lebensabschnitte rufen manchmal nach anderem Mobiliar …
Dann sind die neuen Möbel da: Schränke, Sessel, Sideboards – Sofas, Tische oder Betten. Sie bieten (neben der Illusion eines neuen Anfangs) selbstverständlich erst einen unbe-/gewohnten Anblick. Wonach geht dann das „Suchen der Augen“, wie es in Zeile zwei genannt wird?
Warum vermissen wir, wenn das von uns gewünschte Neue da ist, die Signatur des Alten? Warum suchen wir nach dem lang gewohnten Anblick, nach den Blessuren der Dinge, mit denen wir gelebt haben? Sind die Kratzer eine Art Narben, die uns an eine vergangene Zeit, an unsere Geschichte und „Geschichten zerkratzen Lebens“ erinnern?
Manche werden vielleicht denken an jenes Zitat aus Vergils „Aeneis“: „Auch Dinge haben ihre Tränen – sunt lacrimae rerum“. Das ist die Referenz für eine menschlich-poetische Betrachtung der eher prosaischen Ding-Welt. Können Dinge Zeugen sein, starke Gefühle (Tränen!) erzeugen für unsere Geschichte und Verletzungen – und ihr Fehlen den Verlust des Menschlichen? Das Haiku, der „lustige Vers“, kann auch melancholisch daherkommen …