Top-Extra Juni 2024

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

der Witwer
von nebenan fragt
Alexa

Friedrich Winzer

 

das Blau
ihrer Augen
sein Himmel

Wolfgang Hölz

 

kurz vor dem konzert
der anschwellende applaus
des regens

Alexander Groth

 

im Kuhstall
auf Schiefertafeln
Kosenamen

Wolfgang Hölz

 

Fliederduft im Hof
gehe derzeit dreimal
zum Briefkasten

Ruth Karoline Mieger

 

Haus zu verkaufen
zum letzten Mal streichelt mich
meine Glyzinie

Eleonore Nickolay

 

im Abendlicht –
sie tanzt mit
ihrem Schatten

Hubert Heizmann

 

Nordseeurlaub
dem Kleinen gehen die Namen
für die Schafe aus

Marita Bagdahn

 

tief im Brunnen
ertrinkt
die Sonne

Wolfgang Hölz

 

weiße lilie –
wer spricht für
den trauerredner?

Alexander Groth

 

Im Mai 2024 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 409 Kurzgedichte von 71 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

der Witwer
von nebenan fragt
Alexa

Friedrich Winzer

 

Das Haiku gewinnt seine Brisanz im Aufeinandertreffen von Technik und menschlichem Leben. Das Kürzest-Gedicht setzt in der dritten Zeile gekonnt seine Pointe – und macht damit eine „relecture“ erforderlich.

Die beiden ersten Zeilen bieten ein alltägliches Setting. Da ist ein Witwer, der nebenan wohnt. Die Ortsangabe wird wichtig, weil man ihn offenbar kennt und sprechen hört. Der alleinstehende Nachbar war bis zum Tod seiner Frau gewohnt, mit ihr zu sprechen. Dass er als Witwer das Fragen beibehält, mag ein wenig skurril erscheinen, ist aber menschlich nachvollziehbar.

Mit einem einzigen Wort in der dritten Zeile ändert sich alles: „Alexa“. Das ist höchst wahrscheinlich nicht der Name seiner verstorbenen Frau … „Alexa“ ist ein virtueller Sprachassistent, den Amazon 2013 gekauft und der Allgemeinheit zugänglich gemacht hat. Das System ist in der Lage, Sprach-Interaktionen, Musikwiedergabe, Informationen und Nachrichten bereit zu stellen. Man muss mit „Alexa“ sozusagen „kommunizieren“ wie mit einem Menschen: Befehle geben, Stichwörter nennen, Fragen stellen!

Von daher gesehen, bekommt das Haiku seine Bedeutung und Besonderheit. Der Witwer kann mit Alexa „sprechen“ – „ihr“ Befehle, Wünsche sagen oder sie bitten, Musik zu spielen. Damit ist er gleichsam nicht mehr allein, sondern in der Lage zu kommunizieren – und sei es hier mit einem technischen Gerät/System. Was die Leute „von nebenan“ hören, ist also etwas vom Leben ihres Nachbarn als verwitweter Mann, verändert durch diese neueste Technik.

Man meint, einen Blick in die Zukunft von KI zu werfen. Das Beispiel zeigt durchaus die positiven Möglichkeiten künstlicher Sprachassistenten. Zugleich wird einem etwas unheimlich sich vorzustellen, dass „Alexa“ heißt und (fast!) reagiert wie ein Mensch, aber doch ein technisches Gerät bleibt. Ist das unsere Zukunft? Was wird das mit uns machen? Was bedeutet es für uns Menschen, besonders für die Alten und Einsamen? Vielleicht sollten wir „Alexa“ fragen …

 

Zur Monatsausgabe Juni 2024