Top-Extra Juli 2024

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

Deutsch 5 ein Junge geht nicht nach Hause

Gabriele Hartmann

 

letzter Ton …
die Ziehharmonika
atmet aus

Friedrich Winzer

 

Regentag
umsonst
der Rosenduft

Angelica Seithe

 

Hochwasser
im Gemüsebeet
schwimmen Enten

Marie-Luise Schulze Frenking

 

Dauerregen
der Gerolsbach macht sich auf den Weg
zum Rathaus

Dieter Gebell

 

Rotkehlchen
ach könnten auch wir uns
singend verteidigen

Eleonore Nickolay

 

winterabend
die katze wärmt sich
am digitalen kamin

Alexander Groth

 

Kondolenzbesuch
in der Wohnzimmerecke
ein leerer Sessel

Pitt Büerken

 

Oh diese Hitze
mein alter Hund leidet
nicht allein

Dieter Gebell

 

Schreibfluss –
das langsame Trocknen
der Tinte …

Daniel Behrens

 

Im Juni 2024 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 408 Kurzgedichte von 76 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

Deutsch 5 ein Junge geht nicht nach Hause

Gabriele Hartmann

 

Zeugnistag in der Schule! Ein aktueller Termin. Es mag länger oder kürzer her sein, dass wir selbst davon betroffen waren. Die Gefühle dabei vergisst man sein Leben lang nicht – vor allem, wenn das eigene Zeugnis nicht so gut war.

Das einzeilige Haiku beschwört mit einem Satz die Situation eines Kindes bei der Zeugnisverteilung. Ein Junge hat in Deutsch eine 5 bekommen! Jeder kann sich die Reaktionen vorstellen: zu Hause, von den Eltern, aber auch von Mitschülern oder Nachbarn. („Man kann doch keine 5 in Deutsch schreiben. Was ist nur los mit dir?“) Eine 5 in Deutsch ist anders als eine 5 in Mathe oder den Naturwissenschaften. Nicht nur Faulheit – Dummheit?!

Auch der betroffene Junge reagiert. Er ist einfach nur gelähmt, hat Angst, sich zu Hause der Reaktion der Eltern auszusetzen. Sie gehören zu diesem Drama. Haben wir noch so viel Kind in uns, dass wir uns in die subjektive Lage des Jungen, seine Gefühle von Minderwertigkeit und Angst versetzen können? Er bleibt (in doppeldeutigem Sinne!) sitzen; er „geht nicht nach Hause“…

Ich finde die Einzeiligkeit des Haiku dazu passend: Botschaft und Wirkung in nur einem Satz – wie der Stich mit einem Dolch! Verzicht auf Satzzeichen und die nicht ausgeschriebene Zahl 5 – soll das nicht ganz korrekte Deutsch Solidarität sein? Die Anonymität des unbestimmten Artikels „ein Junge“, die Tatsache, dass er nicht nach Hause geht, schweigt – sie sind der angemessene sprachliche Ausdruck für diesen Jungen, der am liebsten nicht da wäre …

Ein unmittelbar eingängiges, überzeugend gebautes, einzeiliges Haiku. Mir (vielleicht auch andern) kommt jener Song von Reinhard Mey in den Sinn: „Zeugnistag“. Sein Fazit ist betroffenen Kindern und Eltern zu wünschen:

„Ich weiß nur eins, ich wünsche allen Kindern auf der Welt,
und nicht zuletzt natürlich dir, mein Kind:
Wenn´s brenzlig wird, wenn´s schief geht,
wenn die Welt zusammenfällt,
Eltern, die aus diesem Holze sind …“
(https://www.youtube.com/watch?v=Y0WGUzhs2Vk)

 

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