Top-Extra August 2024

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

umzug ins altenheim
sein zweiter koffer
wird nicht gebraucht

Alexander Groth

 

Die Spiegelscherben –
ihr zerbrochenes Gesicht
auf dem Fußboden.

Moritz Wulf Lange

 

Streit
die Goldwaage
schlägt aus

Friedrich Winzer

 

Lüftungsschacht
eine Krähe föhnt ihr Gefieder

Eleonore Nickolay

 

Elternhaus –
die Fenster
vereist.

Moritz Wulf Lange

 

gedanken
über den bach
strömen

Heiner Brückner

 

hochhausfassade
der fensterputzer poliert
cumulus-wolken

Alexander Groth

 

Trödelmarkt
in der Innentasche des Jackets
eine Maske

Marianne Kunz

 

barfuß durch den Fluss …
die Kiesel reden
mit jedem anders

Bernadette Duncan

 

die kleinen Rillen
im Watt
auf deiner Stirn

Ralf Bröker

 

Im Juli 2024 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 440 Kurzgedichte von 76 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

umzug ins altenheim
sein zweiter koffer
wird nicht gebraucht

Alexander Groth

 

Im Grunde braucht dies Haiku keinen Kommentar. Allen ist klar: Wer ins Altenheim umzieht, muss auswählen, was er mitnimmt. Der alte Mensch muss „sich verkleinern“ wie es so schön heißt, Dinge zurücklassen aus seinem bisherigen Leben.

Die Reduzierung der Habe scheint hier allerdings so radikal, dass nicht mal ein zweiter Koffer für den Umzug ins Altenheim benötigt wird. Ein Koffer reicht zuletzt. Das scheint die brutale Wahrheit der finalen Lebens-Etappe …

Vage deuten sich Geschlecht des Menschen und Beziehungen an: Es ist ein alter Mann, der umzieht/umziehen muss („sein“ Koffer). Aber wer ist es, der den Umzug aus der Wohnung organisiert?

Auffällig scheint mir: Es werden keine familiären Beziehungen genannt Vater oder Großvater?) und auch nicht der Grund des Umzugs. Und: Wer hat so rigoros gepackt, dass man mit einem Koffer auskommt?

Der Betroffene selbst, seine Angehörigen oder amtliche Betreuer? Gab es nicht manches, was noch hätte mitgenommen werden können? In jedes Heimzimmer passen mehr Dinge als in einen Koffer gehen …

In den drei Worten der letzten Zeile spricht sich zunächst Nüchternheit aus, vielleicht auch Wehmut. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass in nicht allzu weiter Ferne jenes Ende naht, an dem man gar nichts mehr brauchen wird …

Hinter dem knapp Gesagten scheinen mir dennoch bei den Beteiligten persönliche Gefühle zu stecken. Ob sie nicht gebraucht werden – die verborgenen „menschlichen“ Kommentare?!