Top-Extra November 2024

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

die Familie
steht am Krankenbett
der Arzt geht

Pitt Büerken

 

deine Augen
Krumen
für den Winter

Stefanie Bucifal

 

diese Rose
wie unzureichend Worte sind

Tim Scharnweber

 

ein zarter hauch
vergorener äpfel
auf deinen lippen

Alexander Groth

 

Herbstmorgen
ein Blaulicht gefangen
im Nebel

Friedrich Winzer

 

morsche Parkbank
eine Krähe
erklärt mir den Winter

Stefanie Bucifal

 

nach der disco
das fade mondlicht
in der urinpfütze

Alexander Groth

 

nach Tagen
der Fluss legt sich zurück
in sein Bett

Pitt Büerken

 

Quittengelee – im Weck-Glas
schläft der Sommer

Hubert Heizmann

 

zeitumstellung
das warten der zeiger
auf die verpasste stunde

Bettina Engel-Wehner

 

Im Oktober 2024 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 449 Kurzgedichte von 81 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

die Familie
steht am Krankenbett
der Arzt geht

Pitt Büerken

Einfacher und offener geht es kaum wie in diesem Haiku! Da wird nichts inhaltlich gesagt, aber es ist vieles möglich. Im Grunde wird nur ein Augenblick festgehalten – die Ruhe vor (oder nach?!) dem Sturm.

Die Situation und ihre Deutung sind naheliegend: Da hat sich die Familie am Krankenbett versammelt. Wer da liegt, was er/sie hat, warum die Familie dort versammelt ist, wird nicht mitgeteilt. Es scheint wichtig.

Die letzte Zeile erhöht die Spannung, die in der Szene liegt. Wenn der Arzt geht, hat er zuvor etwas gesagt: eine Diagnose oder eine ungünstige Prognose oder gar eine Art Todesurteil. Nichts davon wird hier erwähnt. Für eine banale Lösung wäre die Situation allerdings zu dramatisch erzählt.

Was passiert jetzt? Wer wird etwas sagen? Kann/sollte die Familie überhaupt etwas sagen? Was wird wohl der oder die Kranke sagen? Gibt es Trost oder Hoffnung? Wer ist imstande, sie auszudrücken?

Das Ganze scheint wie ein erstarrtes Bild – der Moment nach dem Aussprechen einer Wahrheit. Er scheint mir in seiner Einfachheit und stummen Andeutung sehr bewusst und kunstvoll konstruiert. Dies Haiku ist mal kein „heiterer Vers“, eher ein „sehr ernster“ … Aber es deutet eine herbe Wahrheit an, die das Leben bereithält.

 

Zur Monatsausgabe November 2024