und Haiku-Besprechung
von René Possél
die Familie
steht am Krankenbett
der Arzt geht
Pitt Büerken
deine Augen
Krumen
für den Winter
Stefanie Bucifal
diese Rose
wie unzureichend Worte sind
Tim Scharnweber
ein zarter hauch
vergorener äpfel
auf deinen lippen
Alexander Groth
Herbstmorgen
ein Blaulicht gefangen
im Nebel
Friedrich Winzer
morsche Parkbank
eine Krähe
erklärt mir den Winter
Stefanie Bucifal
nach der disco
das fade mondlicht
in der urinpfütze
Alexander Groth
nach Tagen
der Fluss legt sich zurück
in sein Bett
Pitt Büerken
Quittengelee – im Weck-Glas
schläft der Sommer
Hubert Heizmann
zeitumstellung
das warten der zeiger
auf die verpasste stunde
Bettina Engel-Wehner
Im Oktober 2024 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 449 Kurzgedichte von 81 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
die Familie
steht am Krankenbett
der Arzt geht
Pitt Büerken
Einfacher und offener geht es kaum wie in diesem Haiku! Da wird nichts inhaltlich gesagt, aber es ist vieles möglich. Im Grunde wird nur ein Augenblick festgehalten – die Ruhe vor (oder nach?!) dem Sturm.
Die Situation und ihre Deutung sind naheliegend: Da hat sich die Familie am Krankenbett versammelt. Wer da liegt, was er/sie hat, warum die Familie dort versammelt ist, wird nicht mitgeteilt. Es scheint wichtig.
Die letzte Zeile erhöht die Spannung, die in der Szene liegt. Wenn der Arzt geht, hat er zuvor etwas gesagt: eine Diagnose oder eine ungünstige Prognose oder gar eine Art Todesurteil. Nichts davon wird hier erwähnt. Für eine banale Lösung wäre die Situation allerdings zu dramatisch erzählt.
Was passiert jetzt? Wer wird etwas sagen? Kann/sollte die Familie überhaupt etwas sagen? Was wird wohl der oder die Kranke sagen? Gibt es Trost oder Hoffnung? Wer ist imstande, sie auszudrücken?
Das Ganze scheint wie ein erstarrtes Bild – der Moment nach dem Aussprechen einer Wahrheit. Er scheint mir in seiner Einfachheit und stummen Andeutung sehr bewusst und kunstvoll konstruiert. Dies Haiku ist mal kein „heiterer Vers“, eher ein „sehr ernster“ … Aber es deutet eine herbe Wahrheit an, die das Leben bereithält.