und Haiku-Besprechung
von René Possél
winterliche wiesen
ein Silberreiher
bricht das Licht
Gabriele Hartmann
Deichwanderung
angelehnt
an den Wind
Reinhard Dellbrügge
über dem nebel
die ferne
wird mir nah
Helga Stania
hausbesichtigung
im schlafzimmer
schweigt die maklerin
Alexander Groth
im dichten Nebel
die Bäume
ortlos
Ruth Guggenmos-Walter
S-Bahn-Station
ein Kinderlachen
steigt wieder aus
Alexander Groth
Heiligabend
nur in der Kristallkugel
ein bisschen Schnee
Cezar-Florin Ciobîcă
St. Martin
Rot leuchten die Laternen
der Straßensperre
Tim Scharnweber
Silvester
Opas Zinnsoldaten
zerfließen
Friedrich Winzer
gefällter Baum
sein Schatten
wird uns fehlen
Wolfgang Hölz
Im November 2024 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 488 Kurzgedichte von 83 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
winterliche wiesen
ein Silberreiher
bricht das Licht
Gabriele Hartmann
Das Haiku spricht mich an – ohne dass ich es ganz verstehe. Erstens: Es spricht mich an wegen der leuchtenden Bilder, die es visuell hervorruft und des dazu passenden hellen Klanges beim lauten Lesen. Schnee und Sonne, die das Leuchten produzieren, sind hier nur indirekt genannt und präsent. Zu den Bildern: Der erste Bildeindruck ist der von „winterlichen“, d.i. schneebedeckten Wiesen; ein weißes Tableau. Auch der Silberreiher, der über diese weiße Landschaft fliegt, verstärkt mit seinem Gefieder den monochrom weißen Eindruck. Zuletzt ist es das (Sonnen-) Licht auf dem Gefieder des Vogels, das diese Symphonie in Weiß krönt. Zum Klang: Es überwiegen im Rezitieren die hellen Vokale, vor allem das „i“: „winterlich“ – „Wiesen“ – „Silberreiher“ „bricht“ – „Licht“. Sie sind gewissermaßen das akustische Äquivalent zu dem leuchtenden Eindruck, den Landschaft, Reiher und Licht visuell bei mir hervorrufen.
Zweitens: das Bild, das der Satz über die Zeilen zwei und drei zeichnet: „ein Silberreiher bricht das Licht“ ist mir physikalisch nicht richtig klar. Man spricht ja von „Brechung des Lichts“, wenn Licht von einem Medium in ein anderes übergeht – so z.B. wenn Luft auf Wasser auftrifft und ein Teil reflektiert wird, ein anderer Teil aber seine Richtung verändert, „bricht“. Ich sehe hier zwar ein „Reflektieren“ des Lichtes, aber kein „Brechen“ und verstehe daher nicht die Wendung, dass „ein Silberreiher das Licht bricht“ …
Das Haiku wirkt auf mich durch seine bezaubernde winterliche Bild- und Laut-Gestalt. Die sprachliche Darstellung des Silber-Reihers im Licht der Sonne bleibt für mich unbefriedigend. Dennoch: Das Haiku hat mich insgesamt „angesprochen“.