und Haiku-Besprechung
von René Possél
im Bad
der Geruch
der Nachbarin
Christoph Junghölter
Vollmond
mein Schatten verlässt mich
unter der Kiefer
Rudi Pfaller
essen ist fertig
sie ruft
die katze
Ludmilla Pettke
Beziehungsende
er räumt den Speicher
im Smartphone
Friedrich Winzer
sommerflirt
ihre unverhüllten
melanome
Alexander Groth
enge Jeans
sie dreht sich um
ob er sich umdreht
Dyrk-Olaf Schreiber
jeden Morgen
die Krankmeldung
der Gelenke
Friedrich Winzer
Nach der Wanderung
ein Rotbuchenblatt
mir aus dem Haar gekämmt
Claus-Detlef Großmann
Weihnachtskrippe
das verschollene Jesuskind
beim Jüngsten im Bett
Marianne Kunz
trauerrede
ein mann bedeckt
sein schmunzeln
Alexander Groth
Im Dezember 2024 gingen für die Monatsauswahl Haiku 476 Kurzgedichte von 81 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr zehn Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm ausgewählten Reihenfolge.
Anders als sonst hat die Besprechung diesmal keinen dieser Texte zum Thema. Zum Jahresanfang hat René Possél vielmehr einen Satz des Dichters Rainer Maria Rilke besprochen. Er ist kein Haiku, kommt aber dem, was Haiku meint, inhaltlich sehr nahe und ist daher auf drei Zeilen aufgeteilt.
Zugleich ist dies ein herzlicher Neujahrswunsch an alle, die Haiku lesen und schreiben und diese Form des Kurzgedichtes besonders schätzen. „Möge die Übung gelingen!“
Dazu hat er eine Fotocollage mitgeschickt, die seine „Haiku-Sicht“ illustriert:
sieh die Erde an
als solltest du sie
einem Engel erzählen
R.M.Rilke
Am Beginn des neuen Jahres möchte ich hier einen bisher unbekannten Satz des Dichters R. M. Rilke (1875-1926) aus den Duineser Elegien vorstellen. (Er steht in der historisch-kritischen Ausgabe der „Duineser Elegien und zugehörige Gedichte 1912-1922“, die von Christoph König, Wallstein-Verlag Göttingen 2023 herausgegeben wurde.)
Er ist allerdings kein Haiku. Vielmehr ist der Satz hier nur „haiku-like“ auf drei Zeilen aufgeteilt. Er folgt auch nicht den klassischen Haiku-Kriterien. Warum also ein Nicht-Haiku von einem Nicht-Haiku-Dichter auf einer Haiku-Seite besprechen? Weil er in Art und Inhalt Haiku nahekommt.
Inhaltlich ruft Rilkes Satz auf, die Erde vollkommen neu und anders zu sehen als bisher! Das scheint mir aber das Wesentliche des Haiku. Der Aufruf bedient sich bekannter Rilke‘scher Mittel: Das Schauen, der Engel, die Erde, Erzählen=Dichten. Und er fragt provozierend:
Wie wenn alles ganz anders wäre? Wenn wir die bekannte Erde, die wir bewohnen, neu und anders sähen, erzählten? Wenn wir ihr ungeheures Wunder, das zur Sphäre der Engel gehört, selbst endlich wahrnähmen?! Was passierte mit uns, mit unserem Leben, was geschähe mit der Erde?
Poesie hat (nach einem Wort der evangelischen Theologin Dorothee Sölle) die Kraft, „das Eis der Seele zu spalten“. Unsere Seelen erkalten, erfrieren, wenn wir nicht mehr den tieferen Blick für den un-sichtbaren Wärmestrom, den Sinn unseres Lebens aufbringen. Wir verkommen in der flächigen Welt, weil diese Betrachtung weder ihrem noch unserem Geheimnis gerecht wird. „Im Ungesagten das Unsagbare sagen,“ beschreibt M. Hausmann das Haiku. Haiku (-Poesie) ist der andere Blick auf Erde, Menschen, unsere Lebenswelt.
Ich habe den Eindruck, dass schwebende Aufmerksamkeit und schreibende Offenheit der Dichter dieser Dimension gegenüber, zu der Rilke hier aufruft, der Achtsamkeit und Dicht-Kunst eines guten Haiku-Schreibers entsprechen. Daher scheint mir der Satz zu Beginn des neuen Jahrs ein passender Wunsch für alle, die Haiku lieben, lesen, finden und schreiben. „Sieh die Erde an …!“
(Hier eine Fotocollage (mit jpg), in der ich dieses Sehen auch versuche. RP)