Top-Extra Februar 2025

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

Kinderhospiz
und wieder entsteht
ein Stern

Friedrich Winzer

 

nebelmorgen
der alte weg erneuert
sein geheimnis

Georg Leng

 

milchiges Licht
noch hat der Tag
kein Echo

Gabriele Hartmann

 

Hochwasser
der besorgte Blick
des Brückenheiligen

Wolfgang Hölz

 

es will nicht hell werden
an diesem Morgen
in meinem Kopf

Ralf Bröker

 

Weihnachtsferien –
meine Paketbotin trägt
ein neues Parfüm.

Moritz Wulf Lange

 

Sprachkurs
aus meinem Mund spricht
eine Fremde

Sylvia Hartmann

 

Auf dem Bürgersteig
auch die Kreidefiguren
mit Regenschirmen.

Moritz Wulf Lange

 

allein
nach der Beerdigung
Magnolienknospen

Maya Daneva

 

an der u-bahn-station
er wirft ihm eine münze
in den kaffee

Alexander Groth

 

Im Januar 2025 gingen für die Monatsauswahl Haiku 468 Kurzgedichte von 83 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr zehn Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm ausgewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

Kinderhospiz
und wieder entsteht
ein Stern

Friedrich Winzer

 

Ein schwieriges, bedrückendes Thema, das der Autor, die Autorin hier in einem Haiku zu fassen versucht: Kinder, die sterben. Gleich das erste Wort überfällt den Leser mit den schlimmsten Vorstellungen und Ängsten. „Kinderhospiz“ das ist eine Einrichtung für unheilbar und lebensverkürzend erkrankte Kinder und Jugendliche.

Hier gehen junge und hoffnungsvolle Menschenleben bei intensiver Begleitung dennoch zu Ende. Die zweite Zeile setzt dem entgegen, das da etwas entsteht, ja, immer „wieder entsteht“, wenn das Leben eines Kindes zu Ende geht …

Könnte man an dieser Stelle innehalten und kennte man die dritte Zeile noch nicht, entstünde hier die große Frage: Was kann denn in dieser Situation eigentlich noch entstehen? Bei betroffenen Eltern könnte durchaus „etwas entstehen“. z.B. Hoffnung gegen alle Hoffnung oder religiöser Trost. Aber allen ist klar, dass dies etwas ist, was auf einer anderen Ebene spielt; es ist die Ebene dessen, was in einer Extremsituation über das Denkbare oder Menschenmögliche hinausgeht und Trost geben soll …

„ein Stern“ das sind die beiden Worte in der letzten Zeile. Wer einmal den Tod eines Kindes und die Trauerfeier in diesem Zusammenhang miterlebt hat, der wird wissen, dass dieses Bild eine Metapher der Hoffnung oder der tröstlichen Vorstellung ist: Das verstorbene Kind wird wie „ein Stern“, der am Himmel steht (und lacht) …

Die Vorstellung verdankt sich vermutlich dem bekannten Buch des französischen Autors Antoine de Saint-Exupéry: Der Kleine Prinz. Darin weist der Kleine Prinz schon früh auf seinen Tod hin und tröstet den Autor durch den Hinweis, dass er dann ein Stern sein werde, ein Stern, der sogar lache, d.h. glücklich, befreit sei …

Die Anlage und Aussage des Haiku scheint mir einerseits getragen von einer wahrscheinlich längeren (beruflichen?) Erfahrung mit dem Sterben von Kindern. Auf der anderen Seite bewegt es sich hier an der Grenze des Nachvollziehbaren, wenn der erneute Tod eines Kindes sofort mit dem Bild von der „Entstehung eines neuen Sterns“ überhöht wird. Niemand kann und sollte sich ein Urteil erlauben zu diesem schwierigen, sehr bedrückenden Thema. Jeder/jede, der/die mit der Pflege von sterbenden Kindern befasst ist, hat meinen großen Respekt für diese Tätigkeit. Man darf allerdings die Frage stellen, ob das Thema geeignet ist für ein Haiku. Dies geht deutlich hinaus über Gegenwärtigkeit, Konkretheit und Offenheit …

Nichts ist entsetzlicher als der Tod oder die Bestattung eines kleinen Kindes. Dann brauchen und suchen wir Trost – z.B. einen Stern. Die Alternative wäre vermutlich Schweigen … Das muss auch ein Haiku (Schreiber/-in) gelegentlich akzeptieren.

 

Zur Monatsausgabe Februar 2025