und Haiku-Besprechung
von René Possél
Ostermorgen die Stimme des Gärtners
Adrian Bouter
kirschblüten
am horizont erblühen
die wolken
Helga Stania
im garten
die enkelin gießt
das unkraut
Martin Speier
Wintermorgen
Erstklässler spielen
Raucherecke
Marie-Luise Schulze Frenking
wie jedes Jahr
Opa sucht das verschollene
rote Osterei
Gabriele Schettler
unter der Seilbahn
die Schatten der Gondeln
kommen später
Elena Abendroth
Planetarium
Vater sucht den Wagen
Christoph Junghölter
nächtlicher Eislauf
wir schlittern
übers Mondlicht
Marie-Luise Schulze Frenking
nach der therapie
ihr foto
vergessen
Alexander Groth
murmelnd
erzählt der Bach
seine Geschichte
Wolfgang Hölz
Im März 2025 gingen für die Monatsauswahl Haiku 601 Kurzgedichte von 99 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr zehn Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm ausgewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
Ostermorgen die Stimme des Gärtners
Adrian Bouter
Im Ostermonat April möchte ich ein Haiku besprechen, das auf den christlichen Oster-Glauben anspielt. Es hält sich nicht an die übliche Haiku-Form, sondern ist in einer Zeile geschrieben mit fünf Worten und zehn Silben. Das Thema Ostern ist im „Ostermorgen“ präsent. Dann folgt der Ausdruck „die Stimme des Gärtners“.
Spätestens hier ist zum Verständnis biblisch-christliches Wissen erforderlich. Im Johannes-Evangelium wird die Erscheinung des Auferstandenen vor Maria von Magdala erzählt. Sie verwechselt ihn zunächst mit dem Gärtner. Erst als er sie mit Namen anspricht („die Stimme des Gärtners“) erkennt sie Jesus. Das ist alles. Ist das zu viel Bekenntnis, wenngleich „minimal-invasiv“??
Die allgemeine Frage wäre, ob Religion ein Thema ist (sein darf) im Haiku? Das traditionelle japanische Haiku ist eng mit dem Shintoismus verbunden. Es betont Natur und Spiritualität und ist vom Zen-Buddhismus, der Achtsamkeit übt, beeinflusst. Trotz dieser religiösen Verwurzelung erfreut sich das Haiku weltweit großer Beliebtheit und spricht Menschen aus allen Religionen und Nationen an. Religion kann also im Haiku Thema sein, indirekt, oft aber auch explizit.
Darum hier, für Interessierte, religiöser Inhalt und Bedeutung des Haiku. Maria von Magdala, Jüngerin Jesu, erkennt den Auferstandenen nicht. Sie hält ihn für den Gärtner. Erst als er sie anspricht mit ihrem Namen, erkennt sie ihn. Dann redet sie ihn ehrfürchtig an mit dem Titel „Meister“. Jesus ist zunächst nicht erkennbar. Seine Stimme und vor allem die Anrede machen den Auferstandenen erst offenbar. Marias Antwort ist Erkennen und Ehrfurcht, Anrede und Glaubens-Bekenntnis zugleich.
Welche Bedeutung hat der Ostermorgen für uns? Ein normaler Sonntagmorgen im Frühling, an dem wir frei haben und von daher entspannt und fröhlich sind – und nicht mehr? Eventuell gibt es, als Zugeständnis an die Tradition oder Kinder im Haushalt, a bisserl Ostereiersuchen … Kann der Ostermorgen noch eine andere Bedeutung für uns haben? Nämlich, dass der Tod nicht das letzte Wort spricht, dass liebevolles, achtsames Leben, so wie Jesus es lebte bis zum Tod am Kreuz, sinnvoll und ewig gültig ist? Dass eine ungewöhnliche „Stimme vor Tag“ etwas für unser Leben zu sagen hat, dass wir, wo wir herkommen, gewollt sind und wo wir hingehen, mit Namen genannt und erwartet werden?! Frohe Ostern!