und Haiku-Besprechung
von René Possél
im Schilfsaum
ein Graureiher verlangsamt
den Tag
Hubert Heizmann
Briefwahl
ich rede meiner Stimme
gut zu
Julie Ratering
mistelstrauch
er küsst
ihre glatze
Alexander Groth
Friedensdemo
zwei Mädchen streiten
um Papas Arm
Ruth Karoline Mieger
ende der dampferfahrt
das kind leckt noch einmal
am geländer
Alexander Groth
Frühzug
mir gegenüber
müde Augen
Pitt Büerken
der Witwer
nimmt die CDs seiner Frau
als Vogelschreck
Friedrich Winzer
Kinderlied
lauthals singt
der Seniorenkreis
Kea Schwarzfeld
Konfirmandengottesdienst –
in der letzten Bank
kein Empfang.
Georg C. Sindermann
geschälte Mandarine
ihr Duft an meinen
Fingerspitzen
Ingrid Meinerts
Im April 2025 gingen für die Monatsauswahl Haiku 620 Kurzgedichte von 96 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr zehn Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm ausgewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
im Schilfsaum
ein Graureiher verlangsamt
den Tag
Hubert Heizmann
Das Haiku beginnt mit einer Beobachtung aus der Natur- und Tierwelt. Es schließt mit einer Folgerung, die über reine Beobachtung hinausgeht.
„Schilfsaum“ ist die präzise, darüber hinaus nahezu poetische Beschreibung des Randes von Seen u.a. Graureiher leben am Rand von seichten Gewässern oder Feuchtgebieten. Während der Nahrungssuche schreiten sie gewöhnlich langsam mit vorgestrecktem Hals voran. Das ist in seiner „quasi Zeitlupe“ auffallend und steht in direktem Gegensatz zu unserer üblichen schnellen oder gar hektischen Art der Fortbewegung als Menschen.
Das Wort „verlangsamt“ am Ende der zweiten Zeile ist aber nun nicht auf die Bewegung des Graureihers bezogen. In der dritten Zeile folgt eine Pointe, die ungewöhnlich ist und zu denken geben kann. Der Graureiher „verlangsamt den Tag“ ist ein Hinweis. Der Beobachter/die Beobachterin hat von jener langsamen Bewegung des Graureihers das Tempo des Tages bestimmen lassen. Schon die Beobachtung an sich bedeutet ja eine „Verlangsamung“ des eigenen Verhaltens. Ich hätte mir in der dritten Zeile auch vorstellen können, dass es heißt: „meinen Tag“.
Denn damit geht das Haiku über das beobachtete Verhalten und eine allgemeine Schlussfolgerung hinaus. Das finde ich richtig und gut – nämlich richtig beobachtet und gut auf unser Leben bezogen. Sollte man allen einen „verlangsamten Tag“ wünschen?