Top-Extra Juni 2025

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

Aquarellkurs
wie male ich
Pflaumenblütenduft?

Ingrid Meinerts

 

ende april
der bach
schweigt mich an

Alexander Groth

 

frühlingshimmel
ein koi küsst
die wolken

Tim Scharnweber

 

Im Frühlingslicht
die Farbe
deiner Narben

Heike Stehr

 

jagdausflug
sein gewehr
wieder vergessen

Alexander Groth

 

Memoiren
ein Buchhalter erzählt
aus seinem Leben

Pitt Büerken

 

Sprachkurs
aus meinem Mund spricht
eine Fremde

Sylvia Hartmann

 

Tagmond
als könnten die Götter
sich irren

Eva Limbach

 

taufe
sie reicht dem pfarrer
ihre puppe

Alexander Groth

 

Im Mai 2025 gingen für die Monatsauswahl Haiku 557 Kurzgedichte von 87 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr zehn Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm ausgewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

Aquarellkurs
wie male ich
Pflaumenblütenduft?

Ingrid Meinerts

 

Das Aparte an dem Haiku ist, dass es uns in einen kreativen künstlerischen Prozess hineinzieht. Dabei macht es en passant etwas deutlich zu den Themen Synästhesie und Kunst.

Es beginnt mit dem Bereich der Kunst, des Malens – genauer: des Aquarell-Malens. Diese Kunstform hat etwas Andeutendes und Leichtes an sich. Durch den Einsatz von Wasser verteilen sich die Farbpigmente und es entstehen wunderbare Farbverläufe. Die Eigenheit macht das Aquarell-Malen gerade für Anfänger ideal, weil man ohne größere Fähigkeiten, malen oder zeichnen zu können, schöne Effekte erzielen kann.

Die in der ersten Zeile beschriebene Situation ist ein typischer Fall: Ein Kurs zum Erlernen des Aquarell Malens. Dem Anfänger stellen sich vermutlich viele Fragen dazu, wie das geht und mit welchen Methoden oder Techniken er welche Wirkungen erzielen kann.

Der Frageansatz in der zweiten Zeile ist daher gut nachvollziehbar: „Wie male ich…?“ Wonach könnte der Anfänger/die Anfängerin aber nun fragen? Im Haiku kommt in der dritten Zeile oftmals die Überraschung, eine Art Volte, eine neue Dimension.

Hier wird nicht nach irgendeiner Technik für die Darstellung von Landschaften, Blumen oder Pflanzen gefragt. Hier springt der Haiku-Schreiber/die Haiku-Schreiberin auf einmal in die Sphäre einer ganz anderen Sinneswahrnehmung – nämlich die Frage nach der Darstellung von „Pflaumenblütenduft“.

Es ist der Wunsch nach der Darstellung des nicht malerisch Darstellbaren. Der wunderbare Duft der Blüten von Pflaumen gehört in die Sphäre des Geruchssinnes. Er ist schon mit Worten kaum beschreibbar – geschweige denn mit den Mitteln der Malerei: Zeichnungen oder Farbe. Die angedeutete Synästhesie, die Darstellung eines Duftes mit den Mitteln der Aquarell-Malerei ist im Grunde die Herausforderung des menschlich Unmöglichen.

Apart: Der Wunsch, das Unmögliche fertig zu bringen, kommt ausgerechnet von einem Anfänger/einer Anfängerin in einem Kurs zur Aquarell-Technik.

Ein fast surreal anmutendes Haiku. In der kunstvollen Einfachheit und haiku-liken Anlage wahrhaftig ein gelungenes, denk-anstößiges Haiku.

 

Zur Monatsausgabe Juni 2025