und Haiku-Besprechung
von René Possél
Kirschen
ich zeige meinem Enkel
die Räuberleiter
Friedrich Winzer
berge im wasser die poesie einer unschärfe
Helga Stania
Windharfe –
noch immer singt
der tote Baum
Angelica Seithe
Kurzer Brief
ich lese lange
zwischen den Zeilen
Sandra Hilbert
Neuer Garten
ich begrüße alle
mit Regenwasser
Sandra Hilbert
Märchenbuch
Großmutters Lesezeichen
eine Gänsefeder
Eleonore Nickolay
Weidezäune
als wären wir schon
zuhause
Eva Limbach
spätsommerstille
eine gitarrensaite
reißt
Alexander Groth
Sommerbrise
die Pappeln plötzlich
ganz geschwätzig
Anke Holtz
Bild für Bild
entfernst du dich
von mir
Marie-Luise Schulze Frenking
Im Juni 2025 gingen für die Monatsauswahl Haiku 461 Kurzgedichte von 80 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr zehn Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm ausgewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
Kirschen
ich zeige meinem Enkel
die Räuberleiter
Friedrich Winzer
Ein einfaches, ansprechendes Haiku über Sommer, Kirschen pflücken und menschliches „personales Lernen“!
Es reicht in der ersten Zeile das Stichwort „Kirschen“ und dazu die Vorstellung eines Baumes, der reife Kirschen trägt.
Die zweite Zeile verrät: Enkelkind und Großmutter/-vater sind im Garten oder unterwegs und der Enkel hat den Wunsch, vom Kirschbaum ein paar Kirschen zu pflücken,
Die dritte Zeile ist eine Anspielung, wie Großeltern ihre eigene Kindheit oder Jugend erinnern können und daraus Praktisches persönlich an das Enkelkind weitergeben.
Wer von uns kennt noch die „Räuberleiter“? So half man sich als Kinder, wenn man irgendwo höher hinauflangen wollte – z.B. an die Äste eines Kirschbaums. Der eine verschränkte vor dem Leib die Hände, die andre trat mit einem Fuß darauf. Wenn nötig, konnte der/die Kletternde auch noch weiter auf die Schultern des Unter-Manns (oder der Unter-Frau) steigen.
Die Stichworte „Räuberleiter “ und „Enkel“ machen deutlich, dass hier Traditionen, Hilfen in konkreten Situationen praktisch und persönlich weitergegeben bzw. gelernt werden. Das ist ein alter menschlicher Vorgang zwischen den Generationen und – ein anrührendes Haiku zur Sommerzeit.