Über das Vage und Klare im Haiku

Ein Gespräch zwischen Thomas Hemstege und Volker Friebel

 

Volker Friebel: Du hast Japanologie studiert und schon früh zum japanischen Haiku veröffentlicht. Woher kommt dein Interesse an Japan, an japanischer Kunst, am Haiku? Wie hat sie sich über die Zeit entwickelt?

Thomas Hemstege: Als Jugendlicher stieß ich im Bücherschrank meiner Eltern auf „Vollmond und Zikadenklänge“ von Coudenhove. Bilder und Gedichte haben mich sofort angesprochen. Zudem war die japanische Kultur in den 70ern sehr populär, nicht zuletzt durch die Beat Generation. Vor allem Zen-Buddhismus, aber auch Haiku, wurden vielerorts diskutiert. Ich habe versucht, die Bilder als Aquarell nachzumalen, was selbstverständlich nicht geklappt hat. Mit dem Ziel, möglichst bald in Japan richtig Tuschmalerei zu lernen, habe ich Japanologie studiert. Endlich landete ich dann mit 23 Jahren zum ersten Mal in Japan und staunte über die für mich fremde Welt. Bald fand ich in Kondo Norihiko einen geduldigen Lehrer für Tuschmalerei. Unsere Malstunden beendete er stets mit einem Ausflug in die Welt der Haiku.

Anschließend habe ich in meiner künstlerischen Arbeit nie einen Japonismus verfolgt. Ich habe die Technik der ostasiatischen Tuschmalerei eingesetzt, um westliche Inhalte darzustellen, z.B. durch Illustrationen der „Ilias“ oder der „Matthäus-Passion“. Die intensive Auseinandersetzung mit der Form des Haiku begann durch der Zusammenarbeit mit Hartwig Hossenfelder.

Volker Friebel: Hartwig Hossenfelder (1930-2010), ich lese in der Anthologie „Haiku 1995“: seit 1965 verstärktes Interesse an japanischen Kurzlyrikformen, hat 1981 ein Buch mit Senryu, 1983 eines mit Haiku veröffentlicht, du hast beide illustriert. In einem Gespräch mit Sabine Sommerkamp 1984 wendet ihr euch beide, er als Dichter, du als Künstler, gegen das „Japanisieren“. Auch für mich war „Vollmond und Zikadenklänge“ das erste, was ich an japanischer Literatur las, übriggeblieben auf dem Verschenktisch nach einem Sterbefall im Altersheim, wo ich Zivildienst leistete. Ich erinnere mich noch gut an meine Faszination gegenüber dieser ganz anderen Art von Dichtung und Malerei. Was lässt sich für uns Europäer, wenn Authentizität doch ein unumgängliches Kriterium gültiger Dichtung und Kunst ist, aus der japanischen Dichtung (und Malerei) lernen? Wo ist der Grat zwischen dem wünschenswerten „sich durch Fremdes anregen lassen“ und dem anrüchigen Kopieren oder Nachahmen?

Thomas Hemstege: Der auffälligste Unterschied in der Kunstauffassung ist: Konzentration auf das Wesentliche durch Vermeidung des Überflüssigen. In einem Tuschbild steht das Bildobjekt eigenständig frei im Raum, im Nichts, ohne erzählendes Umfeld. Das Haiku beschränkt sich selbst auf 17 Silben (Moren) und ein Wort (Kigo), das vielfältige Stimmungsbilder vor Augen führt.

Durch die kurze Darstellungsform erreicht das Haiku eine seltene Anschaulichkeit. Haiku verstehen sich – in allen Sprachen – von selbst. Man benötigt keine intellektuellen Kenntnisse, um sie zu begreifen, keine bürgerliche Bildung. Man braucht nicht Goethe, Shakespeare oder Whitman gelesen zu haben, um ihren Sinn zu entschlüsseln. Ja, man muss noch nicht einmal wissen, dass Bashō den Sprung eines Frosches gehört hat.

Es kann künstlerisch sinnvoll sein, „im Stil von“ zu arbeiten. Japonismus war die Voraussetzung für den innovativen Jugendstil.

Wir aber haben das Haiku schlicht als lyrische Form betrachtet, losgelöst von Japan, auch wenn es in Japan entwickelt wurde. Genau wie ein Sonett, das in Italien entstand.

Volker Friebel: Und verstehen wichtige Aspekte japanischer Kultur nicht oder nur unvollkommen. Ich hatte beim Lesen deines Frankfurter Vortrags zum japanischen Haiku (1995) den Eindruck, dass Japaner und Europäer beim Schreiben eines Haiku völlig unterschiedliche Dinge leisten, da wir aus völlig anderen Kulturen heraus aufnehmen und gestalten. Wichtige westliche Autoren (etwa Mario Fitterer und Hubertus Thum) haben deshalb zuletzt darauf verzichtet, ihre Kurzgedichte als Haiku zu betrachten.

Thomas Hemstege: Japanische Kommentatoren erklären meist eingangs, wie sie das betreffende Haiku lesen. Denn auch auf Japanisch sind Haiku selten eindeutig. Entsprechend schwierig ist die Übersetzung ins Deutsche. Der Übersetzer muss entscheiden: „die Maus“ oder „die Mäuse“ usw. Eine Übersetzung ist immer auch eine Interpretation, erst recht beim Haiku. Da muss der Leser darauf vertrauen können, dass die Übersetzung dem Original möglichst nahekommt.

Übersetzungen haben auch Tradition. Ich übersetze nach wie vor „uguisu“ falsch mit „Nachtigall“. Denn dabei handelt es sich tatsächlich um den „Japanseidensänger“, der zwar ähnlich singt, aber im Gegensatz zur Nachtigall tagsüber. Ein wesentlicher Unterschied, ob man ihrem Gesang bei Tag oder Nacht lauscht! Doch die deutschen Leser haben sich so sehr an die Haiku-Nachtigall gewöhnt, dass ich diesen Übersetzungsfehler beibehalte.

Aber dennoch: Durch deutsche Übersetzungen lassen sich japanische Haiku sehr wohl ohne Japanologie-Studium verstehen. Auch wenn Anmerkungen sicherlich oft hilfreich sind, z.B. zum historischen oder buddhistischen Hintergrund. Und beim Schreiben eines Haiku wird sicherlich in allen Sprachen Ähnliches geleistet. Das japanische Haiku hat allerdings eine längere Geschichte.

Volker Friebel: In der japanischen Sprache werden, heißt es, Sachverhalte weniger deutlich als im Deutschen ausgedrückt, so muss oft erschlossen werden, ob Einzahl oder Mehrzahl vorliegt oder welche Person überhaupt gemeint ist. Das spricht vielleicht dafür, dass Haiku im Deutschen eher feststehen als im Japanischen, dass die Aussage also im Deutschen klarer erscheint, im Japanischen dem Leser damit eine stärkere Rolle zukommt, als im Deutschen. Andererseits nimmt im Deutschen seit einigen Jahren eine Tendenz zu eher sprachlich, gar sprachspielerisch orientierten Haiku zu, bei denen ein Inhalt schwer bis gar nicht zu fassen ist, während mir scheint, dass zumindest klassische japanische Haiku immer stark aussagebezogen formuliert sind.

Thomas Hemstege: Häufig fehlt dem Haiku ein verständnisvoller, aktiver Leser. Um ein Haiku zu verstehen, bedarf es nicht intellektueller Fertigkeit. Das, was nicht ausgesprochen wurde, muss sich der Leser (und der Übersetzer) lebhaft ausmalen, er muss sich mit allen Sinnen hinzudenken. Das japanische Haiku sagt: „Es duftet.“ Aber nicht, ob süß, streng oder schwer. Anders formuliert: Vollständig wird das Haiku erst durch seinen Leser. Ein schlichtes Beispiel von Chiyo-ni (1703-1775):

Draußen vor der Tür
muss notgedrungen bleiben
der Mond im Winter.

Was soll das? In einer Zeit ohne Fensterscheiben, sondern mit Papier bespannten, undurchsichtigen Fenstern, musste man die Schiebetür öffnen, um den Mond zu sehen. Dann wurde es im Haus kalt. Oder hinausgehen. Dann wurde einem selbst kalt. Aber ein Mensch mit Mitgefühl sollte den Mond ins Haus bitten, damit diesem nicht kalt ist. Das ist schlechterdings nicht möglich.

Im deutschsprachigen Haiku lässt sich allerdings auch komplexes christlich-abendländisches Gedankengut klar formulieren. Das beweisen die Arbeiten von Joachim Fritzen (1909-1996), (http://www.efritzen.de/joachim/).

Volker Friebel: Du hast zwei Übersetzungen zum Reformator Shiki sowie eine zum fortschrittlichen seiner beiden wichtigsten Schüler, zu Hekigotô, veröffentlicht. Wie schätzt du heute die Lage des Haiku in seinem Mutterland Japan ein? Wie hat sich das Haiku dort weiter entwickelt? Ich habe aus der Ferne manchmal den Eindruck, dass das Haiku in Japan heute als konservativ gilt und das Schreiben von Haiku mehr der Traditionspflege dient, denn als moderne Dichtung betrachtet wird. Stimmt das? Gibt es auch moderne Strömungen im japanischen Haiku?

Thomas Hemstege: Auch im 21. Jahrhundert ist das Haiku in Japan quicklebendig, es wird nicht nur gepflegt. Viele Gruppierungen beschäftigen sich mit dem Haiku, mal traditionell, mal experimentell. Heutzutage, verstärkt nach Corona, passiert allerdings viel in Internet-Foren, die ich nicht aufsuche. Man sagte mir aber, dass Haiku auch wieder bei jungen Menschen beliebt sind, weil sie sich gut per SMS verschicken lassen.

Volker Friebel: Was dafür spricht, dass Dichtung trotz all der vielen anderen Möglichkeiten, sich zu beschäftigen, ein Bedürfnis im Menschen besonders anspricht. Wie siehst du denn die Stellung von Dichtung bei dir selbst und in der Gesellschaft?

Thomas Hemstege: Vor einiger Zeit habe ich noch einmal lange in alten Lyrik-Sammlungen geblättert und war wirklich überrascht, mit welcher Wucht mich die Gedichte heute noch berühren. Rilke, ein Zeitgenosse Shikis, begleitet mich durchs Leben. Heute lebt Dichtkunst wohl vor allem in Songtexten, von Taylor Swift bis Eminem.

Kurz noch einmal zurück: Wenn einer drei Substantive untereinander schreibt und das Haiku nennt, ist es eines. Zumindest für ihn. Allerdings nicht für mich. Nach wie vor verstehe ich bei vielen deutschsprachigen Haiku einfach nicht, warum man sie nicht treffender „Freie Kurzlyrik“ oder „Konkrete Poesie“ nennt. Da gibt es doch eine lange Tradition in der deutschen Literaturgeschichte.

Ein Ausblick? Vom ersten Schrei an ist Sprache das fundamentale Ausdrucksmittel des Menschen. Gestaltete Sprache wird immer Mittelpunkt künstlerischen Schaffens sein, auch wenn es manchmal so aussehen mag, als sei das Visuelle dominant. Das Haiku – in welcher Sprache auch immer – wird dazu seinen Beitrag leisten.

Zur Person

Portrait von Thomas Hemstege, 2025

Jahrgang 1955 aus Wesel, Studium Kunstgeschichte und Japanologie, Studium ostasiatische Tuschmalerei in Kyoto, freier Künstler, Tätigkeit als Kulturmanager und Lehrer für Visuelle Kommunikation.

Sechs Haiku von Thomas Hemstege, von ihm selbst ausgewählt

Mit sich selbst spricht er
ausnahmslos in Fremdsprachen.
Die versteht er nicht.

Durchs Herbstlaub schlurfen.
Durchs Blütenmeer schlurfen.
Durchs Leben.

Nach dem Frühlingssturm
zappelt auf den Dachpfannen
ein rosa Kondom.

Wohlgemut reicht er
seiner Mutter ein Sträußchen
mit Erdbeerblüten.

Warten auf den Tod
muss ein Toter nie wieder.
Schneefall in der Nacht.

Die Sonne steht tief.
Auf dem Berg gegenüber
wandert sein Schatten.

Sechs Haiku von Thomas Hemstege, ausgewählt von Volker Friebel

Feierabend.
Er blinzelt: Was er auch sieht,
ist voller Pixel.

Der Regen prasselt.
In seinem Weinglas jedoch
glitzert der Vollmond.

Frühlingsmorgen.
Er verriegelt die Türe
und legt sich nieder.

Es friert Stein und Bein.
Über die Welt da draussen
tief in Gedanken.

Aus vollem Hals
schreit auf der Strasse ein Kind.
Das kann ich nicht mehr.

Fahles Wintergrau.
Das Licht der Kerze ersäuft
in Selbstgesprächen.

Verweise

Masaoka Shiki – Ausgewählte Haiku, Neue Folge: Thomas Hemstege, 2025, pdf Größe: 0,4 MB

Chiyo-ni: Ausgewählte Haiku. In der Übersetzung von Thomas Hemstege. edition das haiku bei BoD, Norderstedt, 2025, 228 Seiten.

Hekigotô, Kawahigashi: Ausgewählte Haiku. In der Übersetzung von Thomas Hemstege. edition das haiku, Hamburg, 2024, 179 Seiten. Eine frühere Version erschien als pdf: Kawahigashi-Hekigotô – Ausgewählte Haiku: Thomas Hemstege, 2016, pdf Größe: 2 MB

Masaoka Shiki: Ausgewählte Haiku. In der Übertragung von Thomas. edition das haiku bei BoD, Norderstedt, 2022, 312 Seiten. Eine frühere Version erschien als pdf: Masaoka Shiki – Ausgewählte Haiku: Thomas Hemstege, 2013, pdf Größe: 6 MB

Hemstege, Thomas: Hagel, Kraut und Rüben – Haiku und ihre Vorbilder in der Natur. Vierteljahresschrift der Deutschen Haiku-Gesellschaft, 60, Märzheft 2003, Seite 7-17.

Hemstege, Thomas: In Klammern gesagt. Haiku und Haiga. Minimart, Frankfurt am Main, 1999, 48 Seiten.

Haiku im Angesicht des Todes. Jisei – Japanische Sterbegedichte, kommentiert und übersetzt von Thomas Hemstege. Minimart, Frankfurt am Main, 1999, 48 Seiten.

Hemstege, Thomas: Haiku – Form und Ästhetik. Vortrag zum 26. Frankfurter Haiku-Seminar. Vierteljahresschrift der Deutschen Haiku-Gesellschaft, 30, Septemberheft 1995, Seite 1-16.

Sommerkamp, Sabine; Hartwig Hossenfelder und Thomas Hemstege: Den Geist der Form übernehmen. Gespräch. apropos 1984-1, Seite 64-68.

 

Buerschaper, Margret (Hg): Haiku 1995. Eine Anthologie. Graphikum, Göttingen, 1995, 56 Seiten.

Hossenfelder, Hartwig: Den grauen Himmel machst du nicht blau – Deutsche Tanka, Tuschmalerei von Thomas Hemstege, Vis-a-Vis, Berlin, 1983

Hossenfelder, Hartwig: Auch dein Schatten ist dir nicht treu. Deutsche Senryu: Gedichte in japanischer Versform. Mit Tuschmalereien von Thomas Hemstege, Simon und Magiera, München, 1981.

Vollmond und Zikadenklänge. Japanische Verse und Farben. Vorwort und Übersetzung aus dem Japanischen von Gerolf Coudenhove. Sigbert Mohn (Bertelsmann), Gütersloh, 1955, 50 Seiten.

 

Übertragungen, Bilder, Haiku und Texte zum Haiku von Thomas Hemstege sind in seinen Büchern zu finden.