Zur Assoziationskraft im Haiku
Udo Wenzel
Zur Monatsauswahl von Haiku heute werden immer mehr Beiträge eingesandt, die die Forderung erfüllen, dass ein Haiku konkret und augenblicksbezogen sein soll. Dennoch schätzte ich während meiner letzten Beteiligungen am Jury-Prozess nur wenige Werke als gelungen ein.
Was macht ein Haiku eigentlich zu einem guten Haiku? Darauf gibt es keine eindeutige Antwort. Was an einem Gedicht ansprechend, bedenkenswert oder wunderbar erscheint, wird natürlich von Mensch zu Mensch unterschiedlich erlebt. Dennoch halte ich es nicht für beliebig oder auf eine Geschmacksfrage reduzierbar. Auch wenn sich nicht einfach ein Rezept für gute Haiku formulieren lässt, so kann man doch benennen, was dazu führt, dass ein Haiku fade wirkt.
In vielen Beiträgen ist eine Absicht oder gar eine Botschaft zu erkennen. Häufig wird überdeutlich, was sich der Autor dabei gedacht hat, was er dem Leser sagen möchte. Das dargestellte Bild wird von diesem vordergründigen Sinn überlagert und der Leser in eine Richtung gedrängt. Die Wirkung erschöpft sich dann oftmals darin, dass der Gedanke des Autors geteilt, seine Intention oder Botschaft erkannt und ihr zugestimmt wird. Zur Illustration zwei ältere Haiku aus eigener Feder:
Schild an altem Baum
an die Rinde genagelt
Naturdenkmal
Hinter den Fenstern
blinken die Weihnachtslichter
flimmern Bildschirme
„Nur schwache Gedichte lassen sich erschöpfend interpretieren oder verstehen. Nur in trivialen oder opportunistischen Texten ist die Summe der Signifikanz die ihrer Teile.“ (1) Das Zitat des Literaturwissenschaftlers George Steiner berührt den kritischen Punkt dieser Haiku. Zwar enthalten beide etwas Ungesagtes, aber es bleibt innerhalb dessen, was auch gesagt werden könnte. Der erste Text zielt auf das Paradoxon, dass ein Baum verletzt wird, um ihn zu schützen. Ein zivilisationskritischer Text also, ebenso wie der zweite, in dem die Kommerzialisierung des Weihnachtsfestes thematisiert ist. Gute Haiku dagegen eröffnen wie jedes gute Kunstwerk einen Bedeutungshorizont, der nicht restlos interpretierbar ist. Sie enthalten nicht nur etwas Unaufgelöstes oder Ungesagtes, sondern stellen uns mitten hinein in die Erfahrung des Unsagbaren.
Eine Poesie, die Schönheit oder Wahrhaftigkeit vermitteln möchte, spricht in erster Linie unsere Imagination an, nicht den Intellekt. Dichterische Sprache lebt durch die Kraft und die Magie der Wörter. In der Haiku-Dichtung wird eine einfache präzise Sprache ohne allzuviel Ornament verlangt. Dass beides kein Widerspruch ist, zeigt ein Gedicht von Hubertus Thum:
dieses Rauschen im Regen
von dort
komme ich her
Zu diesem Haiku fällt mir ein Zitat von Jorge Luis Borges über die Zeilen eines Gedichts von Ricardo Jaimes Freire ein: „Sie bedeuten nichts, sie sollen nichts bedeuten; und dennoch bestehen sie. Sie bestehen als etwas Schönes. Sie sind – zumindest für mich – unerschöpflich.“ (2) Auch wenn das Gedicht von Hubertus Thum etwas bedeuten sollte oder möchte, steht doch ein intellektuelles Verständnis im Hintergrund. Ja, dieses Haiku untergräbt geradezu unsere Neigung zur intellektuellen Interpretation. Es besticht formal durch seine maßvolle Alliteration und Assonanz. Inhaltlich rührt es an eine tiefere Einbildungskraft. Solche Gedichte sind geeignet, Teil der Phänomene zu werden und den Leser ein Leben lang zu begleiten.
Freilich sind auch weniger rätselhafte Texte bzw. Texte ohne subjektiven Bezug imstande uns auf einer tieferen Ebene anzusprechen:
Marienfäden –
im Schoß das Jäckchen
fürs spielende Kind.
Das Haiku von Ingrid Kunschke wirkt zunächst durch die Verwendung des wenig gebräuchlichen Wortes „Marienfäden“ mit seinen mythologischen Bezügen. Aber auch wenn man weiß oder herausgefunden hat, was Marienfäden sind, verliert das Haiku seinen Zauber nicht. Die Spinngewebe des Spätsommers werden verbunden mit dem Motiv einer fürsorglichen Mutter und ihrem selbstständiger werdenden Kind. Hier ist es vor allem die gekonnte Nebeneinanderstellung von zwei Bildern, die einen weiten Interpretationshorizont eröffnet, der nicht auf eine bestimmte Aussage festgelegt werden kann.
Beide Haiku sind frei von vordergründiger Absicht, beide wollen nicht auf einen zu entschlüsselnden Sinn begrenzen, sondern dem Leser Raum für eigene Assoziationen öffnen. Die Frage, was der Autor oder die Autorin denn damit sagen wolle, erübrigt sich. Ohnehin eine Frage, die weniger interessant ist als die Frage, was das Haiku uns sagt. Nur die immer wieder aufkeimende Suche nach neuen Antworten macht es zu einem unergründlich lebendigen Haiku.
Anmerkungen
1 George Steiner, Von realer Gegenwart; in: Akzente. Ein Reader aus fünfzig Jahren. München Wien 2003, Seite 356
2 Jorge Luis Borges, Das Handwerk des Dichters, München Wien 2002, Seite 65
Ersteinstellung: 08.02.2005